Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Licht des Sonnensterns bedeckt. Syllva, die Königin von Isternes, stand an ihrer Spitze, auf der einen Seite von Irrylath, ihrem Sohn, flankiert. Aeriel war neben ihm. Irrylaths Halbbrüder, die jüngeren Söhne der Königin, reckten auf der anderen Seite begierig die Köpfe. Ein flüchtig erhaschter Blick, ein Raunen ging durch die Menge, und die Priesterinnen führten das Sternenpferd herbei. Aeriels Herz hüpfte, als sie seiner Schönheit gewahr wurde: Avarclon, der Wächter von Avaric.
Sie spürte, wie ihr Gemahl heftig erzitterte, wenngleich sie nicht sagen konnte, ob vor Freude oder Entsetzen. Irrylath mied sie nicht länger, wie im ersten Jahr ihrer Ehe. Noch zuckte er bei ihrem Anblick zusammen. Doch seit Orm schien er in stiller Ehrfurcht vor ihr zu leben: Sie vermutete sogar, dass ihre Gegenwart ihm Unbehagen verursachte, oder ihn quälte. Weshalb? Die Frage nagte schmerzhaft an ihr, und ihr wollte einfach keine Antwort in den Sinn kommen. Von jeher behandelte er sie mehr wie eine entfernte, geschätzte Verbündete als eine Gattin oder gar eine vertraute Freundin. Ein überwältigendes Gefühl des Versagens zehrte an ihr, denn Irrylath war nur dem Namen nach ihr Gemahl.
Übermannt von ihrem Verlangen schmiegte sich Aeriel an ihn, benutzte den starken Ansturm der Menschenmasse als willkommenen Anlass. Er schien sie nicht zu bemerken, sein Blick war starr auf das Sternenpferd gerichtet, das, eingehüllt in silbriges Feuer, aus dem Tempel schritt. Bei jeder Berührung seiner Hufe mit den Pflastersteinen stoben weiße Funken. Gewaltige Schwingen breiteten sich aus, spreizten und schüttelten sich,
während die kleinen Flügel des Rosses, die seine Fesseln und Wangen schmückten, wild flatterten. Es ließ seinen Schwanz in die Luft schnellen. Dann tänzelte es geschmeidig, und ein Huf schimmerte heller als der Rest, schillerte noch leuchtender als das Licht des Sonnensterns.
Aeriel entging nicht, wie sich Irrylath verkrampfte. Er drückte den Rücken durch, spannte die Schultern, während der Avarclon mit den Flügeln schlug. Erinnerte es ihn an seine eigenen Schwingen, die er als Engel der Nacht getragen hatte? Jetzt war es Aeriel, die schauderte. Ihr Gemahl war nicht länger das mächtige geflügelte Wesen, jedoch nicht aus eigenem Willen, sondern weil sie ihm den ihren aufgezwängt hatte. Wie mochte es sich anfühlen, solche Flügel zu verlieren? Der Avarclon warf den Kopf in den Nacken, sein Einhorn durchschnitt zischend die Luft. Seine Nüstern blähten sich, und sein Wiehern ertönte wie ein langgezogener Trompetenstoß.
»Bei Ravenna, die mich zuerst erschuf«, rief er und schüttelte sich, »welch feine Arbeit! Ein neuer Körper, meinem alten so ähnlich wie nur irgend möglich. Ihr habt wohlgetan, Priesterinnen und weise Männer, meiner Seele diese neue Hülle zu fertigen. Ich danke euch. Es ist gut, wieder auf dieser Welt zu sein.«
Seine Augen, hell wie Sternschnuppen, glitten suchend über die Menschenmenge.
»Meine Gefährten«, wandte er sich an die restlichen Hüter, die lons , »die ihr bei unserer ersten Schaffung bei mir wart, seid gegrüßt! Dass ihr alle hier versammelt seid, kann nur eines bedeuten: Ihr seid von der Macht der Hexe erlöst, so wie ich vom Tod, und der Krieg gegen die Lorelei kann beginnen.«
Der mächtige Löwe Pendarlon knurrte als Antwort: »Ja, so ist es, mein Freund.«
Das Sternenpferd drehte den Kopf und blickte zur Königin von Isternes. Sie schritt zu ihm. »Ach, Herrin«, sagte er, »Königsgattin in Avaric. Ich frohlocke über unser Wiedersehen. Was ist dieser Ort?«
»Das ist mein Land«, erwiderte Syllva, »das du unter dem Namen Esternesse kennst. Einst Gattin des früheren Königs von Avaric – ja, das war ich. Aber nicht mehr. Ich bin in mein eigenes Reich zurückgekehrt.«
Das Sternenpferd verneigte sich. »Ich erinnere mich. Nach dem Ableben deines Sohnes sah ich deinen Hofstaat abreisen.«
»Du liegst falsch«, entgegnete Syllva. »Er lebt.«
Aeriel konnte ihr Antlitz nicht sehen, aber allein ihre Stimme ließ erahnen, dass die Königin lächelte – als verkünde sie freudige Neuigkeiten. Irrylath sog scharf die Luft ein. Aeriel erhaschte nur einen kurzen Blick auf sein Profil, doch sein Gesicht war angespannt und aschfahl.
»Er war ein Gefangener der Hexe«, fuhr die Königin, ohne jeglichen Scham fort, »und sie verwandelte ihn in einen Engel der Nacht.«
»Einen Engel der Nacht?«, rief der Avarclon, halb schnaubend, halb röhrend. »Der
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