Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
getroffen worden war – vielleicht war Aeriel die Einzige –, und nur sie allein konnte nicht frohlocken. Sie betrachtete ihren Gemahl, der zum Himmel emporschnellte, Pferd und Reiter, die gemeinsam in atemberaubenden Sturzflügen herabschossen. Sie sah das Gesicht des Prinzen, selbst aus dieser Entfernung, das immer noch Glückseligkeit verströmte. Lag es am Wind, dem köstlichen Gefühl des Fliegens, fragte sie sich verwundert, an der Vergebung eines alten Freundes – wenn auch nur für eine begrenzte Weile –, oder daran, dass er und seine Brüder nun mit einem Funken Hoffnung auf Erfolg gegen die Hexe in die Schlacht zogen?
Mit Bestimmtheit wusste Aeriel hingegen nur, dass er sich erneut von ihr abgewandt hatte. Eine heiße Träne rollte ihr über die Wange, bevor sie sich die restlichen verärgert aus den Augen wischte. Sie weigerte sich, hemmungslos zu weinen, hier in aller Öffentlichkeit. Eine Hand umfasste sanft die ihre. Überrascht drehte sich Aeriel um. Ihre Freundin Erin stand neben ihr: ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit einer Hautfarbe, so dunkel wie die Nacht. Ihre Augen, die wie pechschwarzer Gagat funkelten, trafen Aeriels Blick. Das dunkelhäutige Mädchen drückte ihr die Hand. Inmitten der drängenden, wogenden Menschenmenge war es nur Erin, die dem Prinzen und seinem Schlachtross nicht zusah, wie sie hoch am Himmel ihre Bahnen zogen. Erin hatte nur Augen für Aeriel.
»Und nach der Konklave?«, fragte die Gottgleiche.
Ihre Stimme war ruhig, geduldig, gleichwohl eindringlich. Aeriel spürte, dass sie keine Zeit vergeuden durfte. Immer noch konnte sie ihr Gegenüber nicht sehen. Alles war in Dunkelheit getaucht, bis auf den kühlen Wirbel des Feuers, aber sie bemerkte nun, dass die Feuerperlen nicht in der Luft tanzten, sondern eingeschlossen waren in einer großen Glaskugel, die vor ihr schwebte.
»Wir stachen in See und segelten über das Sandmeer zu den Ländern von Westernesse«, murmelte sie. »Dort schloss sich uns das Volk von Erins Inseln an, in ihren kleinen Jollen. Sie weilten schon so lange abgeschottet im Meer, dass ihre Sprache kaum noch der unseren gleicht. Sie sehen Erin an, die bei uns aufwuchs, und versuchen, mit ihr zu sprechen, aber sie versteht sie nicht.«
»Und als ihr das westliche Ufer erreicht habt?«
»Wurden wir von Sabr willkommen geheißen, der Königin der Banditen, von vielen auch die Königin von Avaric genannt. Ihre Gefolgsleute sind Ausgestoßene – einst ehrbare Gesellen, die der Herrschaft des dunklen Engels entflohen waren. Sie ist mit Irrylath verwandt und erhob Anspruch auf die Krone, als der letzte König scheinbar ohne Erben verstarb. Doch nun nennt sie Irrylath ihren Souverän.«
Aeriel gelang es nicht, den bitteren Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie rief sich die zwei ins Gedächtnis, Irrylath und Sabr: zwei Cousins, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Beide waren von schmal, beinahe von gleicher Größe, mit schräg stehenden Augen, blau wie winzige Flammen, und langem, glattem schwarzen Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trugen. Sie erinnerte sich an ihre Ankunft: Irrylath, der den Landungssteg entlangschritt, mit weit ausgestreckten Armen, um die Königin der Banditen zu umarmen. Obschon von Natur aus kühl und zurückhaltend, hatte sie seine Geste herzlich erwidert, ihn »Cousin« und »König« gerufen.
Sabr trug das traditionelle Gewand Avarics: Hemd und Hosen, die in Stiefel mit nach oben gerichteten Zehen gestopft waren, einen Dolch in ihrem Gürtel, einen Ohrring aus verzinktem Weißgold an einem Ohrläppchen. Ihr Gesicht weckte in Aeriel eine unheimliche Erinnerung an jemanden, allerdings konnte sie sich nicht entsinnen, an wen. Irrylath begrüßte seine Cousine mit größerer Begeisterung, als Aeriel ihn je für fähig erachtet hätte. Natürlich kannte er Sabr. Obwohl sie noch nicht geboren war, als er in die Fänge der Hexe geriet, hatte er sie vor
wenigen Tagmonaten kennengelernt. Sabr hatte ihn halbtot am vom Dürre heimgesuchten Ufer Berns gefunden und ihn gesund gepflegt, bis er seine Suche nach Aeriel und den in Gargoyles verwandelten lons fortsetzen konnte.
All dies erzählte er Königin Syllva voll überschwänglichem Enthusiasmus. Sabr lächelte und gestattete der Königin, dass diese ihr die Braue küsste. Irrylath stellte seine Brüder und ihre lons vor, denen sie allen höflich zunickte, gefolgt von Talb, dem Zwerg, dann Aeriels Bruder, den Prinzen von Pirs – und erst
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