Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
die sprach. Es war die Schwertscheide.
»Mit einem leuchtend Flammenschwert,
wird ein Schatten, schwarz wie die Nacht,
aus dem Exil zurückgekehrt,
sich stürzen in die Schlacht.«
Die prunkvollen Intarsien auf dem Holz verschwammen flirrend, wirbelten umher, wandelten sich in einen Vogel.
»Aus Liebe zu jener,
die einsam steht, die Flagge hält,
in Händen die Perle
mit der Seele der Welt.«
Der Vogel streckte sich, zog seine langen, schmalen Schwingen aus dem Futteral. Seine weißen Federn schimmerten.
»Wenn Feinde in Fluten untergehen,
Winterasche in Wasser mündet,
dann wird die erlösende Krone
von Ravennas Tochter entzündet.«
Aeriel blickte zu dem schlanken weißen Vogel auf der Schwertscheide. Ein helles, rundes Auge starrte zurück. Unsägliche Freude und Verwunderung überwältigten Aeriel.
»Reiher!«, schrie sie.
Maruha und Collum standen beide mit offenem Mund da. Brandl wich hastig zurück. Der Reiher blinzelte langsam; seine Metamorphose war noch nicht abgeschlossen.
»Im Grunde«, erwiderte er hölzern, »müsstest du mich Schwertvogel nennen, aber vermutlich muss ich mich wohl mit dem profanen Namen ›Reiher‹ abfinden. Doch nun Ruhe! Dies ist eine komplizierte Verwandlung.«
Leise klirrend schnappte der lange, scharfe Schnabel des weißen Vogels zu. Er schloss das Auge und befreite sich mit heftigem Flügelschlag aus der Schwertscheide. Dabei gewann er an Größe, die Federn verloren ihren silbrigen Glanz, bis er schließlich auf dem Wüstensand stand, die schneeweißen Schwingen spreizte und seine langen, plumpen Beine ausschüttelte.
»Welch mächtige Zauberkunst«, flüsterte Maruha.
»Ravennas Boten-Vogel«, lachte Aeriel und streckte die Hand aus, um seine weißen Brustfedern zu streicheln, »den ich seit Orm nicht gesehen habe.«
Der Reiher plusterte sich auf und tänzelte seitwärts. »Ich habe die Aufträge meiner Herrin erfüllt«, fauchte er, »was ihr alle nun auch tun solltet.«
Aeriel nickte. Mit einem Schlag schöpfte sie neue Hoffnung. Sie hatte den Reim! Ebenso wie die Perle und das Schwert, deren Bestimmungen ihr zwar noch immer Rätsel aufgaben, doch
sie hielt alles in Händen. Schnell drehte sie sich zu den Zwergen um. »Brandl, hast du dir die Verse eingeprägt?«
Einen kurzen Moment sah der junge Barde mit stierem Blick zum Vogel, kam dann jedoch wieder zu Sinnen und trug alle drei langen Strophen, selbst die letzte, beinahe fehlerfrei vor, und das beim allerersten Versuch. Lächelnd nickte Aeriel. Vielleicht wurde doch noch ein echter Barde aus ihm, trotz Maruhas Bedenken. Zumindest verfügte er über das gewaltige Gedächtnis.
»Nun, Zauberin«, sagte Maruha nach geraumer Weile. »Wir sollten uns auf den Weg begeben. Der Alte Melkior erwähnte Höhlengänge, nicht weit von hier. Wir müssen zu unserem Volk zurückkehren und ihm alles erzählen, was wir von unseren geknechteten Brüdern und Schwestern wissen, die gezwungen sind, der Hexe zu dienen.«
»Wir müssen untererdig wandern, um sie zu befreien!«, fügte Brandl mit leuchtenden Augen hinzu, sein Gesicht war vor Begeisterung gerötet.
»Er ist kein Gottgleicher«, murmelte Collum flüsternd. »Lord Melkior ist ein Halbling, wie die Hexe.«
»Nicht mehr«, erwiderte Brandl ernüchtert. »Er ist jetzt ein Golam, ein Wesen aus Kabeln und Drähten, wie das Sternenpferd. « Seine Stimme nahm einen noch sanfteren Klang an. »Die Ravenna hat eine Replik von ihm anfertigen lassen, nachdem Oriencor ihn in ihrem Verrat zum Sterben zurückließ, vor tausend Jahren. Seitdem dient er der Gottgleichen.«
Maruha zischte ungeduldig, sie brannte förmlich, endlich aufzubrechen. »Wir müssen los«, sagte sie und reichte Aeriel die Hand, wie es Sitte bei den Zwergen war, doch Aeriel sträubte
sich. Eine solche Geste war ihr viel zu förmlich. Eine Traurigkeit, die sich beinahe mit der Freude über ihr Wiedersehen mit dem Reiher messen konnte, erfasste sie. Niederkniend umarmte sie die Zwergin.
»Lebe wohl. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Schuld?«, rief Maruha. »Beim Pendarlon, welch ein Unsinn, Zauberin! Das Entfernen der Nadel war Ravennas Werk, und hättest du uns nicht die Wieselhunde vom Leib gehalten, wären wir alle bei der Hexe gelandet.«
Brandl, der allmählich seine Sprachlosigkeit überwand, musterte den Reiher eindringlich, während dieser schmollend und flügelschlagend im bernsteinfarbenen Sand umherstolzierte und ihn keines Blickes würdigte. Maruha packte ihren Neffen am
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