Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
der Seemoloche der Hexe, ein Wasserdrache. Aeriel hastete weiter.
Auf ihrer Reise ins Innere des Palastes durchschritt Aeriel ein Labyrinth mit sonderbar geschliffenen Wänden, die ein verzerrtes Bild von ihr zurückwarfen, bis sie verwirrt anhielt und so benommen war, dass sie kaum sagen konnte, wo ihre Gestalt endete und ihr Spiegelbild begann. Doch die Perle führte sie zuverlässig durch die Korridore. An einer Weggabelung spürte sie einmal, dass der andere Gang, den sie nicht nahm, dorthin führen würde, wo die gefangenen Zwerge arbeiteten, verborgen im Schoß des Palastes, noch tiefer als der Schlammboden des Toten Sees.
Unzählige Zimmer zweigten von beiden Seiten des Korridors
ab, und alle waren leer. Unaufgefordert offenbarte ihr die Perle mehr über die Vergangenheit dieser verlassenen Kammern, als ihr lieb war. Hier hatten sich die Schwarzen Vögel der Hexe zusammengerottet. Dort hatte sie die Schwingen der Ikari gefertigt und im nächsten ihre Herzen mit Blei überzogen. Die Perle ließ die Erinnerungen des Palastes mit unerbittlicher Nüchternheit vor Aeriels geistigem Auge aufsteigen. Schaudernd bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen. Wie konnte ein menschliches Wesen nur so böse werden? Könnte jemand, der zu derartiger Grausamkeit fähig war, überhaupt Erlösung finden? Was mochte die Perle der Seele der Welt in den Händen einer solchen Person verrichten?
Und dennoch, dachte sie und rief sich die Worte der Gottgleichen ins Gedächtnis: Sie ist noch immer meine Tochter .
Aeriel kam zu einem Gemach, vor dem sie wie erstarrt stehen blieb. Ohne nachsehen zu müssen, spürte sie, was sich jenseits der Tür verbarg: ein Thron so weiß wie Salz, einer Königin würdig. Die Perle enthüllte ihr einen raschen Blick auf die Vergangenheit des Zimmers: der junge Irrylath, noch kein Engel der Nacht, der vor dem Thron auf die Knie gezwungen wurde. Das eine Ende der Silberkette, die sein Handgelenk umschloss, ruhte in den Fingern der hochgewachsenen Frau, die vor ihm saß. Sie lehnte sich vor, ihr Gesicht war in Dunkelheit gehüllt. Ihre andere Hand krallte sich im Haar des jungen Mannes fest. Mit grausamer Gewalt zwang sie seinen Kopf in den Nacken und flüsterte ihm ins Ohr:
»Doch, mein Liebling. Das wirst du.«
Aeriel stieß einen spitzen Schrei aus. Das Geräusch dröhnte
zitternd im leeren Korridor, hallte von den Wänden wider, wurde lauter und lauter, bis es sich anhörte, als habe nicht nur eine Stimme geschrien, sondern viele. Aeriel kauerte sich zusammen und bedeckte ihre Ohren. Sie wusste nicht, was damals vorgefallen war – was der Szene vorausgegangen war oder folgte –, und es kümmerte sie wenig. Ihr Augenmerk lag wie gebannt auf dem entsetzlichen Grausen eines einzigen Moments in der Vergangenheit: der junge Irrylath, der seiner Herrin die Stirn bot, und die Weiße Hexe, die langsam und unerbittlich, jede Sekunde genießend, seinen Willen brach und ihn gefügig machte.
Aeriel keuchte erschrocken auf und schluckte ihre Schreie hinunter.
»Nein«, ermahnte sie sich streng. »Nein!«
Dieser flüchtige Blick, den die Perle ihr gewährt hatte, stammte aus der Vergangenheit. Es geschah nicht in diesem Moment. Atemlos löste Aeriel die Hände von den Ohren und vernahm, wie ihr mehrstimmiges Echo zu einem hauchzarten Wispern verklang und dann erstarb.
» Liebling «, flüsterte sie, als sie sich der Worte der Lorelei an Irrylath entsann. Zitternd spähte Aeriel zu den kalten weißen Wänden. »Nichts in diesem frostklirrenden Palast hat etwas mit Liebe zu tun!«
Erbittert marschierte sie weiter. Der Weg schlängelte sich schier endlos hin, manchmal abwärts, manchmal horizontal. Schließlich neigte er sich wieder aufwärts. Der Sonnenstern musste längst aufgegangen sein, dachte Aeriel, und die Nacht vertrieben haben. Kein einziger zarter Strahl der Morgenröte hatte sie in den Tiefen erreicht, doch das Licht war viel heller,
seit sie dem dunklen Gewässer entstiegen war. Aeriel beschlich das Gefühl, sich nun in viel größerer Höhe zu befinden als bei Betreten des Palastes.
»Wie lange bin ich hier umhergewandert?«, fragte sie sich verwundert.
Ein breiter, gerader Korridor erstreckte sich vor ihr. Aeriels Schritt stockte, ihr war auf einmal schmerzlich bewusst, was vor ihr lag. Sie verharrte eine lange Weile, tastete sich mit den Sinnen der Perle vorwärts, versuchte verzweifelt, einen anderen Weg zu finden, doch vergebens. Aeriel sog schaudernd die Luft ein.
Schnell zwang sie
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