Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
brachte. Sie wusste nicht, was mit demjenigen geschähe, der es versuchte. Sie wusste nicht, was Oriencor nun widerfuhr. Die Hexe schien Aeriel mit aller Gewalt die Perle zurückgeben zu wollen. Der Duft von Alten Blumen stieg ihr plötzlich in die Nase, als sich ein neues Bild in der Perle zusammensetzte, das einer dunkelhäutigen Frau mit indigofarbenen Augen.
»Tochter«, sagte diese leise, »du musst mir Glauben schenken. «
Erschrocken starrte Aeriel auf das Juwel. Das Bild war keine verschwommene Darstellung der Zukunft, keine lebhafte Erinnerung der Vergangenheit. Es spiegelte die Gegenwart wider: greifbar, real. Eine lebendige Ravenna blickte die Weiße Hexe von der Oberfläche der Perle aus an.
»Nein!«, keuchte die Lorelei, wich zurück. »Ich habe dein Begräbnisfeuer gesehen …«
Die Gottgleiche schüttelte das Haupt. »Das war lediglich meine Hülle, mein Kind. Einige Künste der Gottgleichen hast du nie erlernt. Mein inneres Wesen wurde umgewandelt, so dass mich meine Botin zu dir bringen konnte. Die Perle birgt mein ganzes Dasein. All meine Zauberkraft, meine Seele vermache ich dir, wolltest du meine Gabe nur annehmen!«
Das Wehklagen der Weißen Hexe steigerte sich zu grellen Schreien und dann markerschütterndem Kreischen.
»Niemals!«
Aeriel presste die Hände auf die Ohren, sie wäre augenblicklich geflohen, hätte sie sich nur bewegen können. Die Kälte der Hexe umschloss und durchdrang sie wie nie zuvor, denn die Perle spendete nun keine Wärme mehr. Ravennas Abbild beobachtete ihre Tochter voll Entsetzen und Schmerz.
»Nimm sie zurück!«, kreischte die Hexe. »Ich will deine Zauberkraft nicht! Ich habe jetzt meine eigene Magie …«
Risse tauchten in der Winterasche um sie auf. Durch die Kraft der Perle spürte Aeriel die hauchdünnen Sprünge, die sich durch den ganzen Palast bis hinab zur Wasseroberfläche und noch tiefer zum Seegrund erstreckten. Sie erhaschte einen Blick auf die Gestalten, gefangen in den Wänden von Winterasche, die sich nun bewegten, erwachten, die Augen aufschlugen. Die ganze Feste regte sich, erzitterte mit einem tiefen Grollen, das mit dem entsetzlichen, schrillen Klagelaut der Hexe verschmolz.
»Akzeptiere oder du bist verloren!«, rief Ravenna eindringlich. »Benutze mein Geschenk, um diese Welt zu erretten …«
Das Abbild der Gottgleichen streckte flehentlich die Hände nach Oriencor aus. Aeriel vernahm Syllvas Kriegsfanfare, die in ihrer Isterner Barkasse zum Rückzug blies. Die dunkelhäutigen Inselbewohner flohen vom Palast zu ihren Jollen und hasteten zum gegenüberliegenden Ufer. Erin krallte sich in Pendarlons Mähne fest, während er mit großen Sprüngen über den See schoss, der allmählich seine dunkle Trübheit einbüßte. Die
Kreaturen der Hexe krümmten und zuckten in dem lichter werdenden Gewässer.
»Glaube mir, Tochter«, beschwor Ravenna. »Mein Altes Volk und ihre Welt sind untergegangen.«
Doch Oriencor ignorierte selbst jetzt noch das Wissen der Perle. Der Palast erschauderte wieder, der Boden unter Aeriels Füßen bog sich. Sie hörte ein Krachen, als würde Kristall abbröckeln und zerschmettern.
»Lügen! Lügen … Ich glaube dir kein Wort! Sie können nicht tot sein!«
»Hör auf«, versuchte Aeriel ihr zu sagen. »Hör auf zu schreien, oder der ganze Palast stürzt ein.«
Die andere zollte ihr keinerlei Beachtung, sie umklammerte die Perle mit den Fingern, als wollte sie sie zermalmen.
»Tochter, besinn dich!«, rief Ravenna verzweifelt.
Dann barst die Perle in Aeriels Hand, und das Bild der Gottgleichen zerbrach, platzte, verschwand. Die schwimmhäutigen Finger der Hexe drückten Aeriel nieder, Splitter des Korunds bohrten sich in ihr Fleisch. Weißer Nebel quoll von der zertrümmerten Muschel empor, einer Wolke gleich, voll funkelndem Feuer. Er erfüllte das Gemach, umhüllte sie beide. Oriencor zerrte mit aller Gewalt, als wolle sie sich von der Perle lösen, schlug wild auf den Rauch und die leuchtenden Funken ein, die sie zu versengen drohten. Aeriel hingegen verspürte nichts als ein schwaches Schimmern, ein beinahe angenehmes Glühen.
Sie hatte sich den Daumen an der scharfen Kante der Perle geschnitten. Ein Teil des wabernden Lichts floss durch die Wunde in sie ein. Aeriel hieß es willkommen. Das Flimmern senkte
sich auf ihre Haut, drang in ihre Poren, kroch unter ihre Fingernägel, legte sich um ihre Ohren und ihr Haar. Es schoss, siedend heiß, wie brennendes Silber durch ihre Adern. Auch sie schrie auf,
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