Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Lüge.«
Die grünen Augen der anderen musterten Aeriel eindringlich. »Hat meine Mutter also letztlich mein Geburtsrecht anerkannt? «, murmelte sie.
»Ravennas Zauberkraft steckt in diesem Juwel«, sagte Aeriel, »ihr ganzes Wissen über den Lauf der Welt. Die Perle zu erschaffen, kostete sie das Leben.«
Oriencors Augen funkelten hungrig. »Dann gib sie mir«, erwiderte sie und streckte die Hand aus.
»Lass nicht zu, dass sie dich berührt!«, schrie Irrylath. Große Brocken Winterasche zerbarsten und stoben von der Diamantenklinge. In der Wand klaffte nun ein Loch, allerdings immer noch nicht groß genug. Der Avarclon wieherte und scharrte mit den Hufen. »Aeriel«, beharrte Irrylath. »Komm zu mir. Ich bringe dich fort!«
Aeriel sah ihn verwundert an, sah die Verzweiflung auf seinem Gesicht, den Schweiß, der ihm in Strömen die Schläfen hinabrann, obgleich sein Atem dampfte wie der eines Drachen in der eisigen Luft. Die Perle glühte in ihrer Hand.
»Das ist mein Erbe«, murmelte Oriencor. »Ich nehme es mit mir, sobald ich nach Oceanus reise.«
»Aeriel«, rief Irrylath nachdrücklich, beugte sich erneut durch das zerstörte Fenster. »Komm, erhöre mich!«
Wenn er sich noch weiter zu mir lehnt, dachte sie erschrocken, wird er fallen . Sein Arm war ausgestreckt, die Finger gespreizt, mit der Handfläche nach oben. Ein wildes Verlangen erfüllte Aeriel, als ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie mit ihm gehen könnte. Wenn sie jetzt ginge, müsste sie nicht sterben. Sie könnte die Perle, all ihre sonderbare Zauberkraft und das Licht für sich behalten. Irrylath brächte sie fort, in Sicherheit.
»Warum zauderst du?«, wollte Oriencor mit scharfer Stimme wissen. »Leg sie in meine Hand!«
Zitternd starrte Aeriel sie an. Die Hexe war bereits besiegt, all ihre Gefolgsleute in die Flucht geschlagen. Aber sie ist noch nicht erlöst! , meldete sich eine ungebetene Stimme in ihrem Innern. Sie ist noch nicht überzeugt, dass du die Wahrheit sprichst. Folge Irrylath, und du wirst einen hohlen Sieg erringen. Die Welt wird nicht genesen. Die Hexe wird schon bald ihre Kräfte zurückgewinnen, und du dich demselben Kampf erneut stellen. Verbittert erkannte Aeriel, dass sie Ravennas Auftrag erfüllen musste, koste es, was es wolle.
»Komm, Aeriel!«, rief ihr Gemahl.
Die Perle brannte hell wie der Sonnenstern in ihrer Hand.
Sosehr sie danach trachtete, konnte sie Irrylath nicht begleiten. Kopfschüttelnd flüsterte sie: »Lebe wohl.«
Oriencor brach in Gelächter aus. Aeriel sah, wie Irrylath sie verzweifelt und fassungslos anblickte. Über dem Lachen der anderen, dem Keuchen seines eigenen Atems und dem des Avarclons, dem rauschenden Flügelschlagen des Sternenpferdes und dem Klappern seiner Hufe konnte der Prinz unmöglich ihre Worte verstanden haben. Doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er ihre Mundbewegung richtig gedeutet, ihr Kopfschütteln gesehen.
Zu spät rief er: »Nein!«, als Aeriel hastig den Blick von ihm riss, sich umdrehte und die Perle in die Hand der Weißen Hexe legte.
14
Die Flut
D ie Weiße Hexe schrie. Aeriel war wie festgefroren, immer noch berührte sie die Perle. Sie spürte, wie etwas aus dem Juwel in Oriencor floss, die reglos wie eine Statue dastand, mit aufgerissenem Mund, aus dem sich eine Wehklage erhob, langgezogen und schrill.
All jene in den Barkassen und auf dem fernen Schlachtfeld hielten inne, wirbelten herum, starrten zur Feste. Bilder tanzten über die Oberfläche der Perle: Pest und Feuerwalzen, die Zerstörung von Oceanus.
»Tot?«, kreischte die Weiße Hexe. » Tot? Wie kann das sein? Nicht tot. Nicht tot! Vergiftet? Seuchen? Wie konnten sie sich selbst vernichten?«
Aeriel war zu jeglicher Bewegung unfähig, konnte weder den Blick noch die Hand von der Perle zu reißen. Ebenso wie Oriencor, deren markerschütternde Schreie anhielten. Aeriel erkannte benommen, dass obschon die Perle das Schicksal der Gottgleichen preisgab, Ravennas Tochter die Wahrheit leugnete, sich weigerte, ihr Glauben zu schenken. Aeriel schüttelte den Kopf. Die Ohren dröhnten ihr von den gellenden Protesten der Hexe.
Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass Oriencor das Geschenk von sich weisen könnte.
»Es waren nur wir, nur wir , die zum Vergnügen der Alten in den Krieg zogen. Sie können nicht … Sie können nicht tot sein! Unmöglich …«
Aeriel überfiel ein Anflug von Angst. Niemals hätte sie irgendein Wissen angezweifelt, das sie durch die Perle in Erfahrung
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