Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
herrscht nicht über uns. Niemand kann über uns herrschen. Niemand kann jemanden beherrschen, wenn der sich nicht beherrschen lassen will.« Sie lächelte Aeriel an und tätschelte den kleinen Lagerhund, der um Fleisch bettelte. »Man muss Herr über sich selbst sein.«
»Aber …«, begann Aeriel verwundert, »aber wenn doch der Pendarlon …«
»Er ist unser Beschützer und unser Führer«, erklärte die Stammesfürstin, »und jeder von uns ist frei.«
Aeriel schüttelte den Kopf, sie verstand noch immer nicht. »Aber beherrschst nicht du, Orroto-to, die Ma’a-mbai?«
»Ich führe sie nur«, erwiderte die andere, »und sie folgen mir nur, so lange es ihnen gefällt.«
Aeriel dachte lange nach und verstand es dennoch nicht.
»Aber was bin dann ich?«, fragte sie schließlich. »Jetzt, wo ich mich im Land des Löwen aufhalte? Bin auch ich eine von seinem Volk geworden?«
»Nein«, entgegnete die Stammesfürstin. Sie stand auf und scheuchte den kleinen Hund davon. »Du gehörst noch immer zum Avarclon, auch wenn du jetzt Gast des Sonnenlöwen bist und unter seinem Schutz stehst.«
»Und wer ist der Wächter von Avaric?«, fragte Aeriel. Sie hatte noch nie von einem Avarclon gehört.
»Das Sternenpferd«, sagte die andere und streckte sich.
»Das Sternenpferd!«, rief Aeriel und setzte sich abrupt auf. »Aber ich suche doch …«
Die Stammesfürstin nickte. »Ja, der Pendarlon hat es mir erzählt. Er sagte auch, dass er zurückkommt, um dir zu helfen.«
»Wann?«, rief Aeriel und wollte Orroto-to zurückhalten. »Wann kommt er zurück?«
»Wenn du gesund bist. Leg dich jetzt hin und ruhe dich aus. Ich muss mir einen neuen Wanderstab schnitzen, und du solltest auf deinen Verband achten.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und tauchte geschickt unter der Zeltbahn hindurch ins Freie.
»Wie lange muss ich noch warten?«, beharrte Aeriel. Schon wurde ihr schwindelig vom Sitzen.
Orroto-to zögerte, drehte sich um, zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Er kommt, wann er kommt. Er sagt nie, wie lange es dauert. Ruh dich jetzt aus, kleine Weißhaut, und hab Geduld. Du musst eben warten.«
Aeriel wartete. Bei Tag unterbrachen die Ma’a-mbai ihre Wanderung nur mit nur kurzen Pausen. Der Sonnenstern erreichte langsam seinen höchsten Stand und ging dann wieder unter. Oceanus nahm zu. Als das Dunkel der Nacht hereinbrach, schlugen die Ma’a-mbai ihr Lager auf und lebten von ihren Vorräten. Sie webten, fertigten Werkzeuge an und sangen Balladen. Sie waren große Balladensänger, wenn sie an ihren hellen Feuern saßen, die einen rezitierten alte Verse, andere bliesen auf Flöten oder schlugen mit ihren Stöcken und Trommeln den Takt dazu. Aeriel erfuhr seltsame Geschichten über alle Völker dieser Welt und über die alten Zeiten auf dem Planeten Oceanus.
Doch am liebsten hörte sie die Ballade von dem Jungen, der versuchte, seinen Wanderstab wegzuwerfen. Jedes Mal, wenn er ihn absichtlich vergaß, sprang er über den Sand hüpfend und tanzend hinter ihm her, bis er ihm dreimal heftig auf den Kopf schlug, wobei er rief: »Was tust du? Weißt du nicht, dass ich dir gehöre? Wenn ich nicht immer wieder hinter dir herlaufen würde, müsstest du zurückkommen und mich holen.« Da begriff der Junge, dass es klug war, bestimmte Dinge nicht einfach liegen zu lassen. Als Aeriel die Geschichte zum ersten Mal am Lagerfeuer hörte, lachte sie so, dass ihr die Seiten wehtaten.
Schließlich war die Nacht zu Ende, und der Sonnenstern ging am Horizont wieder auf. Die Ma’a-mbai setzten ihre Wanderung fort. Die Wunde an Aeriels Hals verheilte zu einer glatten weißen Narbe, und sie fühlte sich stark genug, dem Treck auf seinem langen Marsch zu folgen. Orroto-to schenkte ihr einen reich verzierten Wanderstab und lehrte sie, die scheuen Geschöpfe der Wüste zu jagen: Wüstenhühner, Antilopen und Hasen.
Schon bald war Aeriel geschickt genug, um mit dem Stock auf neunzig Schritt eine Beute zu erlegen. Sie versetzte ihm dabei mit dem Handgelenk einen gewissen Drall, wodurch sich der gebogene Schaft mitten im Flug drehte und mit dem Knaufende schnell und hart traf. Von nun an brachte Aeriel ihre Beute ins Lager und schämte sich nicht mehr, die Nahrung mit ihren Gastgebern zu teilen.
Der Sonnenstern ging dreimal auf und unter, so lange lebte Aeriel bei den Ma’a-mbai. Die Tage wurden lang, die Nächte kühl und angenehm, aber schließlich wurde sie des Wartens überdrüssig. Irgendwie hatte sie sich in der
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