Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Wüste verändert, wo das Leben so friedlich und ruhig verlief. Sie fühlte sich stärker, freier und sicherer. Und ihr Körper verlor seine Schlaksigkeit. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie zu einer jungen Frau heranwuchs und nicht mehr einer spindeldürren Holzpuppe glich.
Es gab auch andere Veränderungen. Einmal hatte sie zu Orroto-to gesagt: »Stammesfürstin, bist du dunkler geworden, seit ich dich zum ersten Mal sah?« Und die Frau hatte gelacht und geantwortet: »Nein, aber die Sonne hat dich gebleicht.« Ein anderes Mal hatte Aeriel gefragt: »Orroto-to, bist du kleiner geworden, seit ich dich das erste Mal sah?« Und wieder hatte die Stammesfürstin gelacht und gesagt: »Nein, meine Kleine. Du bist gewachsen. «
Aber die Zeit verstrich schnell. Nun war Aeriel schon drei volle Tagmonate bei den Ma’a-mbai, und in zwei weiteren würde der Ikarus losfliegen, um seine letzte Braut zu rauben. Der Morgen brach zum vierten Mal seit ihrer Flucht aus dem Schloss des
Vampirs an, als sie zu der Führerin des Wüstenvolkes sagte: »Ich gehe. Ich kann nicht länger auf den Pendarlon warten. Wenn es sein muss, werde ich den Avarclon auch alleine finden. Vielleicht ist es jetzt schon zu spät.«
Orroto-to nickte und blickte sie mit ihren weisen dunklen Augen an. »Du bist frei«, sagte sie. »Tu, was du tun musst. Wenn dein Wanderstab zu lange geruht hat, dann nimm ihn und gehe, wohin er dich führt. Ich werde dir den Pendarlon nachschicken, wenn er kommt.«
Aeriel wusste nicht, wie sie sich bedanken sollte. Orroto-to nickte ihr nur leicht zu, die einzige Geste des Abschieds, die ihr Volk kannte, und ging zu den Ma’a-mbai zurück. Ihr Treck setzte sich langsam in Bewegung. Aeriel winkte ihnen zu, wandte sich dann nach Norden Oceanus zu und marschierte los. Sie war noch nicht lange gegangen, als sie hinter sich im Sand den Tritt von Tatzen hörte. Sie drehte sich um, als der Pendarlon mit einem Satz an ihre Seite sprang.
»Du bist sehr ungeduldig, meine Tochter«, sagte er. »Als ich bei den Ma’a-mbai eintraf, warst du nicht mehr da.«
»Warum bist du erst jetzt zurückgekehrt?«, fragte Aeriel ihn, während er neben ihr in einen langsameren Schritt verfiel. »Meine Wunde ist schon vor zwei Tagmonaten verheilt.«
»Dies war nicht die einzige Wunde, die heilen musste, meine Tochter«, antwortete der Sonnenlöwe. »Da du nun wieder völlig hergestellt bist, will ich dich zu dem Avarclon bringen.«
Aeriel nickte. Der Löwe neigte den Kopf und bedeutete ihr aufzusitzen. Nachdem sie die Schlaufe am Knauf des Stockes übers Handgelenk gezogen hatte und der schwarze Samtbeutel
fest am Hals verschnürt war, fasste sie beidhändig die zottelige Mähne des Pendarlon und schwang sich auf seinen Rücken.
»Halt dich gut fest«, sagte er, und mit einem Riesensatz sprang er über die nächste Düne, schneller als ein Windhund. Der Löwe sprang so weich und geschmeidig, dass sie überhaupt nicht durchgeschüttelt wurde. Aeriel hielt sich an seiner goldenen Mähne fest, die weich wie ungesponne Seide war.
Der Horizont hob und senkte sich bei jedem Sprung. Der Löwe lief geradewegs auf Oceanus zu, der langsam, aber stetig höher stieg. Mit der Zeit wurde Aeriel müde vom Sitzen, und so legte sie sich, die Arme um seinen kräftigen Nacken geschlungen, flach auf den Rücken und schloss die Augen. Vielleicht schlief sie auch ein.
So eilten sie Stunde um Stunde über die Dünen. Ausgeruht, nahm Aeriel wieder ihre sitzende Stellung ein. Später aß und schlief sie wieder. Der Sonnenlöwe rastete nie, noch änderte er seine Geschwindigkeit. Sie liefen an den Ruinen fantastisch überkuppelter Städte vorbei, schwarz und tot wie ausgebrannte Sturmlaternen lagen sie da; zerstört waren die Kuppeln, die Gebäude verfallen. Einmal glaubte sie am Horizont eine hell erleuchtete Stadt zu sehen, doch sie verschwand wieder, als der Pendarlon den Boden berührte. Und als er das nächste Mal in die Höhe sprang, konnte Aeriel sie nicht mehr entdecken.
Sie liefen an den Skeletten von Tieren vorbei, deren ausgebleichte Knochen im Sand zu Staub zerfielen. Auch lebende Tiere sahen sie, kleine flinke Antilopen und große zottelige Kamele mit Doppelhöckern. Mehrmals entdeckte sie Geier am Himmel, die bedächtig über ihnen schwebten, und ein Paar
Vierbeiner, die sie und den Sonnenlöwen aus der Ferne aufmerksam beobachteten.
Sie sahen aus wie langbeinige, großohrige Hunde mit buschigen Schwänzen, doch als Aeriel den Löwen auf sie
Weitere Kostenlose Bücher