Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
leeren Stelle. Dort wird mein Platz sein, dachte Aeriel, wenn ich diese Welt verlasse. Sie sah die eine leere Phiole an der bleiernen Kette an. Dort wäre meine Seele gefangen, wenn mich der Vampir genommen hätte.
Sie legte die schwere Kette beiseite und blickte auf den bewusstlosen Engel der Nacht. Er lag ganz still da und atmete flach. Hilflos und nicht bei Sinnen, wirkte er eher bemitleidenswert als schrecklich. Aeriel berührte die blutlosen klaffenden Wunden auf seiner Wange und Schulter. Die eisige Kälte seines Fleisches ließ ihre Fingerspitzen erstarren.
Plötzlich erfüllte ein helles weißes Licht den halbdunklen Raum. Aeriel wandte sich um und sah den Zwerg mit einer brennenden
Fackel in der Tür stehen. Sie fragte sich, wie viel Zeit seit Sonnenuntergang verstrichen sein mochte, nicht mehr als eine halbe Stunde sicherlich, so lange, wie der Zwerg für seinen Weg von unten aus den Höhlen durch die verwinkelten Gänge und Hallen des Schlosses bis in dieses Zimmer gebraucht hatte. Talb keuchte und prustete, als er eintrat. Er musste sich sehr beeilt haben. Sie wunderte sich, dass sie ihn nicht hatte kommen hören.
»Ach, Tochter«, sagte er, ganz außer Atem. »Ich sehe, du bist wohlauf. Demnach war meine ganze Hast umsonst. Ich …«, er hielt inne, »… Ich hörte einen Schrei.«
Aeriel wandte den Kopf ab und berührte ihr Handgelenk. »Er hat mich gepackt«, murmelte sie, »aber die Gespensterfrauen kamen mir zu Hilfe.«
»Die Gespensterfrauen?«, fragte der kleine Magier. »So haben sie sich zu guter Letzt doch noch nützlich gemacht, und du hast den Dolch gar nicht gebraucht.« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, verschränkte die Hände und nickte. »Ich bin höchst erfreut.«
Aeriel sah ihn an. »Dein Gift hat seine Wirkung getan«, sagte sie, über ihren harten Tonfall selbst überrascht. »Was war es?«
»Gift?«, schnaubte Talb, als er sich setzte. »Meine Tochter, das ist es wohl kaum gewesen. Im Gegenteil, es ist Leben, Gesundheit, Wärme, nenn es, wie du willst. Es ist in allen Pflanzen, im Nektar der Trichterblumen, in allen Tieren enthalten. Es ist der Saft, der dem Quell von Aiderlan entspringt und sich in alle Wasser der Welt ergießt. Selbst der Tote See der Wasserhexe enthält ein wenig von diesem Lebensquell, andernfalls gäbe es
dort nichts, nicht einmal die lebenden toten Wesen. Selbst die Hexe ist noch ein wenig lebendig.« Dann deutete er auf den gefallenen Engel der Nacht. »So wie er. Aber es ist der Tod in ihm, der die Kraft dieses Tranks ablehnt.«
Der Zwerg ließ den Blick durch den Raum schweifen, ehe er die kleinen Aschehäufchen am Boden entdeckte.
»Gut«, sagte er. »Ich sehe, du hast den Frauen des Vampirs ihre Seelen wiedergegeben. Ich muss schon sagen, dass ich froh bin, ihre sterblichen Überreste zu sehen. Immer dies Jammern und Wehklagen, man konnte es kaum noch ertragen …«
»Hier ist der Dolch«, sagte Aeriel. Sie zog ihn unter ihrem Gewand hervor und löste die Kette von ihrem Hals. Sie hatte nur geredet, um ihn zu beruhigen, denn er konnte den Dolch ja sehen, da er viel heller strahlte als die Fackel in seiner Hand.
Talbs Verhalten war wie eh und je: munter und gesprächig. Aber jetzt ging es ihr schrecklich auf die Nerven. Dass er angesichts dessen, was sie vor sich hatten, so oberflächlich daherschwatzte, war ihr ein Greuel. Denn sie wusste, dass sie den Ikarus töten mussten. Vor Monaten, in den Bergen von Terrain, hätte ihr der Gedanke gefallen, aber jetzt machte er sie krank, da sie ihn weder fürchtete noch verabscheute oder gar anbetete.
Sie empfand für ihn eine eigentümliche Art von Mitleid; Mitleid wegen seiner Hilflosigkeit und fast eine Sehnsucht nach seiner früheren Macht. Er war schrecklich und böse gewesen, ja, aber auch sehr schön. Nun aber wollten sie ihn töten, so, wie er die Gespensterfrauen, den ganzen Planeten und sie selbst vernichten wollte. Und dennoch quälte sie die Erinnerung an
seine Schönheit, und sie fühlte, wie eine unerklärliche Trauer sie ergriff.
Aeriel reichte dem Magier das Messer. »Tu du es«, sagte sie. »Ich kann es nicht.«
Der Zwerg stand auf, trat auf sie zu und musterte sie eingehend. »Meine Tochter«, begann er, »nur ein Kind der Oberen-Länder-unter-dem-Himmel kann diese Klinge führen und sicher treffen. Sie ist nicht gemacht für die Hand eines Sohnes der Erde.«
»Natürlich«, sagte Aeriel leise. »Ich hätte es wissen sollen.«
Bitterkeit und Trauer mischten sich mit dem
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