Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Gefahr bestand. Ich habe es dir vorher nicht gesagt, weil nichts dabei herausgekommen wäre. Um zu heilen, bedarf es wahrer Liebe. Du aber hast ihn vorher nicht geliebt, obwohl ich deutlich sehe, dass du jetzt anfängst, ihn zu lieben.«
Aeriel starrte Talb an, und ihr Zorn schlug langsam in Erstaunen um. Wie konnte er behaupten, dass sie den Vampir liebte? Der Gedanke war ihr nie gekommen. Dann dämmerte es ihr allmählich, langsam, wie ein Sonnenaufgang, dass sie ihn auf eine bestimmte Weise liebte. Sie bewunderte die Schönheit, Erhabenheit, Macht und Anmut, die er einst besessen hatte. Aber wenn das Liebe war, dann war sie nicht blind, denn noch immer verabscheute sie seine Grausamkeit, Feigheit und anmaßende Selbstsucht.
Sie blickte den Zwerg an und sagte: »Ja, ich glaube, dass ich ihn auf eine Art liebe, und ich will nicht, dass er zugrunde geht.« Ihr Blick wanderte zum Engel der Nacht. »Ich will ihn retten. Sag mir, wie!«
Doch der kleine Magier antwortete: »Das kann ich nicht. Mein Zauber ist da machtlos. Die Heilung muss von dir kommen.«
Aeriel sah ihn verständnislos an. »Ich verstehe weder etwas von der Heilkunst noch von der Magie.«
»Das ist nicht nötig«, sprach der Zwerg. »Denk nach, Kind! Denk an das, was ihm fehlt!«
Aeriel blickte auf das bleiche Gesicht des Vampirs. »Er hat kein Blut«, sagte sie. »Die Wasserhexe hat es getrunken. Er kann als Sterblicher nicht ohne Blut leben.«
»Dann musst du Blut für ihn finden«, sagte der Magier.
»Aber nur in den Adern lebendiger Wesen fließt lebensspendendes Blut. Ich kann nicht das eine töten, um ein anderes zu retten.«
»Wie wahr«, entgegnete der Zwerg.
»Dann ist es hoffnungslos«, rief Aeriel voller Zorn über ihre eigene Hilflosigkeit und die ausweglose Lage. Ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen.
»Fang deine Tränen mit den Händen auf!«, forderte der kleine Magier sie auf. Er griff nach ihren Händen und formte sie zu einer Schale, und noch während er sprach, verwandelten sich ihre herabströmenden Tränen in rotes Blut, das kräftig hervorsprudelte und in kurzer Zeit ihre Hände füllte.
»Aber du sagtest doch, dein Zauber …«, flüsterte Aeriel.
»Oh, das ist nicht mein Werk«, sagte der Zwerg. »Größerer Zauber als der meinige waltet in diesem Gemach, hier, wo Klinge, Kelch und Lebenstrank auf eine Liebe wie die deine treffen. Alles liegt ab jetzt in deinen Händen, meine Tochter. Ich bin nicht mehr als dein Gehilfe.«
Aeriel starrte auf das lebendige Blut, das ihre Hände füllte, dann auf den Engel der Nacht. »Aber es wird nicht genug sein«, sagte sie. »Es geht nicht.«
»Es wird reichen«, sagte der Zwerg. »So, wie ein Quäntchen
deiner Nächstenliebe einen endlosen Faden spann, so wird eine einzige Träne deiner wahren Liebe genügen.« Dann kippte er ihre Hände, und das Blut fiel in einem dünnen Strom auf die weiße Brust des Vampirs, wo es wie Regen in durstiger Erde versickerte. Und nicht lange, da war alles Blut aus Aeriels Händen verströmt. Doch die Haut des Vampirs hatte schon Farbe bekommen und ihre Totenbleiche verloren. Kein Fleck, kein Spritzer blieben auf seiner Brust zurück, und auch Aeriels Hände waren trocken und sauber wie zuvor. Sie sah, wie das Blut die Wunden an Schulter und Wange füllte.
Voller Verwunderung blickte sie auf den Zwerg. »Du bist ein wahrer Zauberer«, sagte sie, »und ein großer obendrein.«
Aber wieder schüttelte der Zwerg den Kopf. »Ich habe nichts getan, mein Kind«, sagte er. »Ich könnte es nicht und habe es auch nicht versucht. Magier können nicht alles. Nur die Kraft deiner Barmherzigkeit konnte das vollbringen …« Mit einem Blick auf den Engel der Nacht unterbrach er sich plötzlich. »Schnell, schnell!«, rief Talb, »oder er stirbt. Du hast ihm seinen Lebenssaft zurückgegeben, doch sein Herz ist noch immer aus Blei. Der Kelch, den er vorhin leerte, wird ihn für kurze Zeit am Leben erhalten, aber nicht lange.«
Aeriel erschrak, als sie sah, dass der Atem des Ikarus schwächer wurde.
»Was muss ich tun?«, fragte sie, aber der Zwerg antwortete nicht. Der kurze Augenblick, den sie dasaß und ihn ansah, erschien ihr wie eine Ewigkeit, doch war er nicht viel länger als zwei Herzschläge. Dann raffte sie sich auf und sprach. »Du sagtest, die Heilung müsse von mir kommen. Sehr gut. Ich bin nicht
von so weit gekommen, um ihn jetzt sterben zu sehen. Er braucht zum Leben ein Herz aus Fleisch, und wenn es sein soll, dann will ich es ihm
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