Gefangene des Feuers
deiner eigenen Sicherheit solltest du Mangas Coloradas nie vergessen. Denn diese Apachen hier tun es sicher nicht.“
So viel Schmerz, auf beiden Seiten. All das bedrückte Annie, als sie von einem Patienten zum nächsten ging, Tee und Hustenmedizin verabreichte und versuchte, sowohl das Fieber als auch die tiefe Trauer zu lindern. Denn inzwischen gab es keine Familie mehr in dem kleinen Stamm, die nicht mit dem Tod in Berührung gekommen war. Auch Jacali machte ihre Runden und redete mit ihren Leuten, damit jeder wusste, welche Tragödie sich bei ihnen abspielte. Annie hörte leises, ersticktes Jammern aus den Grashütten dringen, doch in ihrer Gegenwart zeigten die Betroffenen ihre Trauer niemals. Dazu waren sie zu stolz, zu zurückhaltend, und ihr gegenüber natürlich misstrauisch. Denn all ihr guter Wille konnte nicht die Jahre der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Apachen und Weißen auslöschen.
Als sie wieder nach dem Baby sah, fand sie es apathisch vor, nicht länger unruhig. Wieder träufelte sie ihm Tee ein und wusch es mit kaltem Wasser ab, in der Hoffnung, ihm ein wenig Linderung zu verschaffen. Die kleine Brust hob sich so schwer und der Atem kam so rasselnd, als hätten seine Lungen kaum noch Platz für Sauerstoff.
Die Mutter zwang sich, sich aufzusetzen. Sie hielt ihr Kind auf dem Schoß und murmelte mit schwacher Stimme auf die Kleine ein. Offenbar wollte sie sie aufwecken. Jetzt erschien Rafe und setzte sich direkt am Eingang hin. „Wie geht es ihr?“
Mit gequältem Blick sah Annie ihn an, während sie kaum merklich den Kopf schüttelte. Doch die junge Mutter hatte es bemerkt, stieß einen scharfen Laut des Protestes aus und presste ihr Kind an die Brust. Das runde, flaumige Köpfchen fiel kraftlos zurück.
Auch Jacali kam nun, setzte sich hin und wartete.
Als die junge Mutter müde wurde, nahm Annie das Baby, wiegte es in ihren Armen und summte die Schlaflieder, die sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kannte. Die Grashütte war nun erfüllt von den friedlichen, zärtlich klingenden Lauten. Das Baby atmete bald immer schwerer, und Jacali beugte sich mit eindringlichem Blick aus ihren alten Augen vor.
Rafe nahm der erschöpften Annie schließlich die Kleine ab und legte sie an seine Schulter. Am Morgen war sie noch voller Lebenskraft gewesen, doch die fiebernde Hitze hatte sie zunehmend geschwächt. Er dachte an die rundlichen Wangen, das flaumige Haar und die zwei kleinen scharfen Zähnchen, die sich in seine Finger gegraben hatten.
Wäre es sein Kind, würde er es nicht ertragen können, es zu verlieren. Auch wenn er das Baby erst seit vier Tagen kannte und gerade mal eine Stunde mit ihm gespielt hatte, drückte ein so schweres Gewicht seine Brust zusammen, dass er beinahe zu ersticken glaubte.
Dann nahm Annie das Baby wieder und träufelte ihm noch mehr Tee ein. Doch das meiste tropfte wieder von den kleinen Lippen. Sie hielt das Kleine immer noch, als der winzige Körper sich langsam versteifte und erbebte.
Jacali entriss ihr das Kind und trug es nach draußen, obwohl die Mutter vor Schmerz laut aufschrie. Annie war sofort auf den Füßen und stürzte hinaus, angetrieben von einer Welle des Zorns, die all ihre Erschöpfung vertrieb. „Wo gehst du mit ihr hin?“, wollte sie wissen, obwohl sie wusste, dass die alte Frau sie nicht verstehen konnte. Sie konnte Jacalis Gestalt, die sich immer mehr entfernte, in der Dunkelheit nur schwer ausmachen, während sie hinter ihr herlief.
Doch Jacali ging nur bis zum Rand des Lagers, wo sie auf die Knie sank. Sie legte das Baby vor sich auf den Boden, ehe sie ein langsames Klagelied anstimmte, das Annie einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
Als Annie nach dem Kind greifen wollte, hielt Jacali sie mit einem scharfen Zischen zurück. Rafe, der ihnen gefolgt war, umklammerte Annies Schulter, um sie zurückzuhalten. Sein Gesicht war wie versteinert, als er auf die winzige Gestalt auf dem Boden starrte.
„Was macht sie denn da?“, rief Annie und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.
„Sie will nicht, dass das Baby in der Grashütte stirbt“, sagte er tonlos. Vielleicht war es auch schon tot, aber es war zu dunkel, um erkennen zu können, ob es noch atmete. Er spürte Annies warme Lebenskraft unter seiner Hand, und es schnitt ihm ins Herz.
Er hatte sie nie nach dieser besonderen Gabe gefragt oder in irgendeiner Weise darauf angespielt. Fast war er sich sicher, dass sie sich dieser Kraft nicht einmal bewusst war. Er
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