Gefangene des Feuers
gerade üblich.“
Es war das einzige Thema, über das sie sich gerne auslassen würde. Kurz warf sie ihm einen Blick zu, dankbar, dass sie nun ein Thema hatte, über das sie reden konnte. „Vermutlich, weil es mich von jeher interessiert hat.“
„Das kann ich mir vorstellen. Wie kamen Sie dazu?“ „Mein Vater war Arzt, ich bin damit aufgewachsen. Die Medizin hat mich schon immer fasziniert.“
„Die meisten kleinen Mädchen spielen mit Puppen, nicht mit Medikamenten.“
„Vermutlich. Papa sagte, es hätte erst richtig angefangen bei mir, als ich mit fünf Jahren von einem Scheunenboden fiel. Er hatte entsetzliche Angst, dass der Sturz mich mein Leben kosten würde. Er sagte, ich hätte nicht mehr geatmet und er konnte auch keinen Puls mehr bei mir finden. Er drückte fest mit der Faust auf meine Brust und hat mein Herz wieder zum Schlagen gebracht. Zumindest hat er das immer erzählt. Aber inzwischen vermute ich, dass ich damals einfach nur einen Schock hatte. Wie auch immer, mich hat der Gedanke fasziniert, dass er mein Herz wieder zum Schlagen gebracht hatte. Und seitdem habe ich von nichts anderem mehr geredet, als Ärztin werden zu wollen.“
„Erinnern Sie sich an den Sturz?“
„Nicht richtig.“ Sie warf einen Blick zum Feuer und betrachtete versunken die gelben Zungen der Flammen mit der blauen Spitze, die hin und her tanzten. „Das, was mir noch in Erinnerung ist, ist eher ein Traum vom Fallen, nicht der eigentliche Sturz. Im Traum bin ich zwar gestürzt, konnte aber allein wieder aufstehen. Außerdem war es sehr hell und Menschen kamen, um mir zu helfen. Was Papa bei dem Unglück damals gesagt hat, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Schließlich war ich ja erst fünf. Haben Sie noch Erinnerungen an die Zeit, als Sie fünf waren?“
„Man hat mir gehörig den Arsch versohlt, weil ich die Hühner in die Küche gelassen habe“, erwiderte er rundheraus.
Annie verkniff sich ein Lächeln. Sie nahm keinen Anstoß an seiner Wortwahl, denn seit sie in Silver Mesa arbeitete, gab es nur wenig, was sie noch nicht gehört hatte. „Wie viele Hühner waren es denn?“
„In dem Alter konnte ich noch nicht besonders gut zählen, aber ich hatte den Eindruck, dass es ziemlich viele waren.“
„Haben Sie noch Brüder oder Schwestern?“
„Einen Bruder. Er ist im Krieg gestorben. Und wie ist es bei Ihnen?“
„Ich war das einzige Kind. Meine Mutter ist gestorben, als ich zwei war, deshalb habe ich keine Erinnerung mehr an sie. Papa hat danach nicht wieder geheiratet.“
„War er glücklich darüber, dass Sie auch Ärztin werden wollten?“
Annie hatte sich diese Frage selbst schon oft gestellt. „Ich weiß es nicht. Stolz, ja, das glaube ich schon, aber er hat sich auch Sorgen gemacht. Ich wusste nicht warum, bis ich anfing zu studieren.“
„War das Studium denn schwer?“
„Allein aufgenommen zu werden war schwer. Ich wollte nach Harvard, aber dort lehnte man mich ab, weil ich eine Frau bin. Schließlich bin ich nach Geneva, New York, gegangen, wo auch Elizabeth Blackwell ihren Abschluss gemacht hat.“
„Und wer ist Elizabeth Blackwell?“
„Die erste weibliche Ärztin in Amerika. Sie hat 1849 ihren Abschluss gemacht, doch seither hat sich wenig verändert. Die Dozenten haben mich nicht beachtet, und die anderen Studenten haben mich schikaniert. Sie haben mir ins Gesicht gesagt, dass ich nichts weiter als ein lockeres Mädchen sei, da jede anständige Frau sich nie das ansähe, was ich sehen würde. Sie rieten mir zu heiraten, falls mich überhaupt noch jemand haben wollte. Und ich sollte Kinder bekommen, wie es sich für eine Frau gehörte. Sie meinten, ich solle die Medizin denjenigen überlassen, die intelligent genug dafür wären, nämlich den Männern. Ich habe allein studiert, allein gegessen - und bin geblieben.“
Er betrachtete ihr schmales, zartes Gesicht, das im Schein des Feuers leuchtete, und bemerkte den entschiedenen Zug um ihren Mund. Ja, sie war geblieben, obwohl sich ihr alle entgegenstellten und sie ablehnten. Die Leidenschaft, die sie dazu trieb, sich für die Medizin abzurackern, konnte er zwar nicht nachvollziehen, aber er war sicher, dass ihre Dozenten und Kommilitonen sie in diesem Punkt unterschätzt hatten. Er hatte noch nie eine Ärztin getroffen, aber während des Krieges wären viele kranke und verwundete Männer gestorben, hätten Frauen nicht freiwillig in den Krankenhäusern gearbeitet und sie versorgt. Und sicherlich hatten diese Frauen auch
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