Gefangene des Feuers
stehen, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie halb nackt war und sie die Eiseskälte des Bodens unter ihren bloßen Füßen spürte. „Ich dachte, Sie wären verschwunden“, erwiderte sie angespannt.
Mit frostigem Blick starrte er sie an, sein hartes Gesicht ausdruckslos. Schließlich sagte er: „Gehen Sie wieder rein.“ Sie wusste, dass sie seiner Aufforderung Folge leisten sollte, aber ihre Sorge ließ sie zögern. „Wie fühlen Sie sich? Eigentlich sollten Sie jetzt noch kein Wasser schleppen.“
„Ich habe gesagt, Sie sollen reingehen!“ Seine Stimme war tonlos, hatte aber die Schärfe eines Peitschenhiebs. Sie wandte sich um und ging vorsichtig wieder zurück, wobei sie immer wieder zusammenzuckte, weil der raue Boden sich in ihre Fußsohlen grub.
Als sie in der Hütte war, öffnete sie eines der Fenster. Dann sah sie sich ihre Kleidung an. Sie war steif und zerknittert, aber trocken. Und das Beste war - sie war sauber. Hastig zog sie sich an. Sie zitterte; an diesem Morgen setzte ihr die Kälte mehr zu als am Tag zuvor. Vielleicht, weil sie nur mit einem Hemd bekleidet nach draußen gelaufen war. Und Rafe hatte noch kein neues Feuer gemacht.
Nachdem sie sich mit den Fingern die Haare gekämmt und sie hochgesteckt hatte, legte sie Holz nach und begann mit dem Frühstück, ohne jedoch bei der Sache zu sein. Sie musste die ganze Zeit an Rafe denken, unzusammenhängende Gedanken, die von einem Thema zum anderen sprangen. Er sah an diesem Morgen schon viel besser aus. Seine Augen glänzten nicht mehr fiebrig. Wahrscheinlich war es noch zu früh für ihn, körperliche Arbeit zu verrichten, aber wie sollte sie ihn schon davon abhalten können? Sie konnte nur hoffen, dass die genähten Wunden nicht aufrissen.
Sie wunderte sich, dass er die Hütte verlassen hatte, ohne dass sie wach geworden war. Sicher, es hatte lange gedauert, bis sie eingeschlafen war, zudem war sie sehr müde gewesen. Aber normalerweise wachte sie leicht auf. Er hatte auch eine ganze Zeit wach gelegen. Er hatte sich zwar nicht unruhig hin und her geworfen, aber sie hatte es an der Spannung seines Körpers gespürt. Ein einziges Wort oder eine einladende Geste von ihr, und schon hätte er auf ihr gelegen.
Ein paarmal war sie versucht gewesen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und dieses kleine Wörtchen „Ja“ zu sagen. Sie fühlte sich zutiefst beschämt, weil sie sich eingestehen musste, wie nahe sie daran gewesen war, einem Gesetzlosen ihre Unschuld zu schenken. Sie konnte sich nicht einmal damit trösten, dass sie der Versuchung widerstanden hatte, um ihrem hohen moralischen Anspruch zu genügen und sich ihren Ruf und ihre Selbstachtung zu bewahren. Denn es war schlicht Feigheit gewesen, die sie davon abgehalten hatte, sich ihm hinzugeben. Sie hatte Angst gehabt. Angst, weil sie zum einen ein unbekanntes Terrain betreten würde - zum anderen, weil sie fürchtete, er würde ihr wehtun, emotional und körperlich. Sie hatte Frauen versorgt, die von Männern zu achtlos oder brutal behandelt worden waren. Zudem wusste sie, dass das erste Mal für Frauen ohnehin schmerzhaft war. Trotzdem hatte sie sich voller Verlangen nach ihm gesehnt. Vielleicht hätte sie nachgegeben - wenn es nur das gewesen wäre. Sie wollte wissen, wie es sich anfühlte, unter einem Mann zu liegen, sein Gewicht zu spüren und ihn in sich willkommen zu heißen.
Doch ihre größte Angst war die, dass sie sich damit zu verletzlich für ihn machte. Wenn er ihren Körper nahm, würde er den Schutzwall, den sie um ihr Herz errichtet hatte, einreißen. Und auch wenn sich ihr Verstand heftig dagegen wehrte, würde er ihr zu viel bedeuten und eine Wunde bei ihr hinterlassen, die nicht so schnell verheilen würde wie eine körperliche. Wie konnte sie überhaupt zulassen, dass sie Gefühle für ihn hegte? Er war ein Gesetzloser, ein Mörder! Selbst jetzt zweifelte sie nicht daran, dass er auf sie schießen würde, sollte sie versuchen zu fliehen. Seltsamerweise glaubte sie ihm aber trotzdem, dass er sie in ein paar Tagen unversehrt zurückbringen würde.
Annie hatte sich immer als moralisch hochstehende Persönlichkeit gesehen, die in der Lage war, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden und den richtigen Weg zu finden. Moral hatte für sie nichts mit Verurteilung zu tun, sondern vielmehr mit Mitgefühl. Aber was hatte es zu bedeuten, dass sie zum einen die Gewaltbereitschaft in Rafe McCay spürte und sich dennoch von Anfang an so stark zu ihm hingezogen
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