Gefangene des Feuers
einfache Fallen zu bauen. Nur mit Schnur und biegsamen Zweigen, die er mit dem Beil geschlagen hatte, fertigte er verschiedene Arten von Fallen an. Unter seiner Anleitung durfte sie schließlich selbst eine bauen. Ihre Hände fühlten sich ein wenig ungelenk an, aber ihr war klar, dass jede neue Fertigkeit zunächst gewisse Schwierigkeiten mit sich brachte. Er war sehr geduldig mit ihr, auch wenn er darauf bestand, die Verschnürung noch einmal neu zu binden, bis er zufrieden war. Ihre Wangen glühten vor Kälte und vor Begeisterung, als sie es schließlich geschafft hatte.
Als sie zur Hütte zurückgingen, bemerkte sie, wie leicht seine langen, muskulösen Beine die steilen Hänge nahmen. Allmählich gewöhnte sie sich daran, hinter ihm herzutrotten, mit nichts als hohen Bergen um sie herum und endloser Stille. Sie lebten hier so abgeschieden, dass man glauben konnte, sie wären die einzigen Menschen auf der Welt. Ein Mann und seine Frau. Bei dieser Vorstellung verkrampfte sich ihr Magen, und schnell schob sie den Gedanken von sich. Denn wenn sie erst einmal zuließ, sich auszumalen, sie wäre seine Frau, dann wäre sie verloren. Er würde es spüren, so wie er alles zu wissen schien, und sie mit seinen hellen durchdringenden Augen ansehen. Er würde von ihrer Miene ablesen, dass ihr Verstand kapituliert hatte. Und er würde sie nehmen, vielleicht sogar gleich hier auf dem kalten Waldboden.
Um nicht ins Schwanken zu geraten, zwang sie sich, zu überlegen, was er bisher alles verbrochen haben könnte. Sie verspürte einen schmerzhaften Stich von Verzweiflung, weil sie ihn sich so leicht als Kriminellen vorstellen konnte. Er war hart, kalt und gefühllos. Und auch wenn er sie besser behandelte, als sie erwartet und befürchtet hatte, konnte sie sich über seine wahre Natur nicht hinwegtäuschen. Selbst jetzt war er wachsam wie ein Raubtier. Sein Kopf ging ständig hin und her, um alles zu erfassen und jedes kleinste Geräusch zu ergründen.
„Was haben Sie getan?“, fragte sie, unfähig, sich noch zurückzuhalten, obwohl sie wusste, dass dieses Wissen sie in ständiger Sorge um ihn zurücklassen würde.
„Wann denn?“, murmelte er und blieb stehen, um einen Vogel zu betrachten, der aufgeflogen war. Nach einem Moment entspannte er sich wieder und ging weiter.
„Weshalb werden Sie gesucht?“
Er sah sie über die Schulter an, und seine Augen schimmerten gefährlich. „Spielt das eine Rolle?“
„Haben Sie jemanden beraubt?“, drängte sie weiter.
„Wenn es sein muss, würde ich stehlen, aber das ist nicht der Grund, warum ich gesucht werde.“
Annie erschauerte, weil seine Stimme so ausdruckslos klang. Sie berührte seine behandschuhte Hand. „Warum dann?“
Er blieb stehen und sah zu ihr hinunter. Ein freudloses Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Mord.“
Ihre Kehle war plötzlich trocken, und sie ließ die Hand fallen. Ja, sie hatte es gewusst, von Anfang an, da sie gespürt hatte, zu welcher Gewalt er fähig war. Aber dass er es so leichthin sagte, als würde er sie auf einen besonders interessanten Vogel hinweisen, verschlug ihr den Atem. Sie schluckte schwer, ehe sie sich zu der Frage durchrang: „Und? Haben Sie es getan?“
Die Frage schien ihn zu überraschen, und er hob ein wenig die Augenbrauen. „Nicht den, dessen man mich beschuldigt." Nein, er hatte den armen Tench nicht getötet. Aber er hatte einige Männer getötet, die hinter ihm her gewesen waren. Was in diesem Punkt wohl keinen Unterschied machte.
Die Zweideutigkeit seiner Antwort war ihr nicht entgangen. Annie achtete nicht auf den Weg, während sie weiterging. Sie war Ärztin und kein Richter. Es stand ihr nicht zu, ihn zu fragen, warum und wo jemand verletzt worden oder krank geworden war oder den Wert eines Menschen abzuwägen, ehe sie nicht ihr ganzes Wissen und ihre Fähigkeiten zum Wohl des Kranken eingesetzt hatte. Vielmehr bestand ihre Aufgabe darin, die Menschen gesund zu machen, soweit sie dazu in der Lage war. Nun sah sie sich zum ersten Mal schmerzlich der Tatsache gegenüber, dass sie das Leben eines Mannes gerettet hatte, der zugab, ein Mörder zu sein. Wie viele Menschen müssten noch sterben, nur weil dieser Mann lebte? Vielleicht hätte er auch ohne ihre Hilfe überlebt, doch das würde sie nie erfahren.
Und dennoch ... Hätte sie ihm die Hilfe verweigert, wenn sie all das von Anfang an gewusst hätte? Nein, nicht guten Gewissens. Als Ärztin hatte sie geschworen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um
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