Gefangene des Feuers
bewusst, dass er auch einfach weiterziehen könnte und vielleicht gar nicht die Absicht hatte, zu ihr zurückzukehren. Doch ihr Herz glaubte nicht an diese Möglichkeit. Obwohl sie keinen Beweis hatte, nur die Liebe zu ihm, die sie in sich trug, wusste sie, dass er sie nicht allein lassen würde. Rafe hatte gesagt, dass er zurückkommen würde. Und solange er lebte, würde er sein Wort halten.
Sie hatte das Gefühl, als ob inzwischen viele Stunden vergangen waren und der Morgen bald heraufziehen musste, als
sie hörte, wie ein Pferd sich ihr näherte. Schnell rappelte sie sich auf und wäre beinahe gefallen, weil ihre Beine vom langen Sitzen gefühllos waren. Rafe saß ab und nahm sie sofort in die Arme. „Hat es irgendwelche Probleme gegeben?“, fragte er in ihr Haar. „Hat dir irgendetwas Angst gemacht?“ „Nein“, sagte sie stockend, barg ihr Gesicht an seiner Brust und atmete seinen wundervoll männlichen Duft ein. Nichts hatte sie geängstigt, außer der entsetzlichen Vorstellung, dass sie ihn vielleicht nie Wiedersehen würde. Am liebsten hätte sie sich für immer an ihn geklammert und ihn nie wieder losgelassen.
„Ich habe dir saubere Kleidung mitgebracht und noch ein paar andere Dinge.“
„Was denn?“
„Einen zweiten Becher zum Beispiel.“ Sie hörte, dass er belustigt klang. „Und noch einen Kochtopf. Und Streichhölzer. Solche Sachen eben.“
„Keine Öllampe?“
„Weißt du was? Sollten wir wieder eine Hütte finden, in der wir bleiben können, werde ich eine Öllampe für dich auftreiben, das verspreche ich dir.“
„Ich nehme dich beim Wort“, gab sie zurück.
Er breitete eine Decke auf dem Boden aus. „Wir können auch genauso gut hier schlafen“, sagte er. „Wenn es Morgen ist, halten wir uns Richtung Süden.“
Da sie jetzt auch Traherns Decken hatten und sich unterhalb der Schneefallgrenze befanden, würde es warm genug sein. Die Frage war nur, ob Annie überhaupt schlafen konnte. Sie rollte sich auf der Seite zusammen und bettete ihren Kopf auf seinen Arm. Aber kaum hatte sie die Augen geschlossen, sah sie Trahern tot vor sich und öffnete sie rasch wieder.
Rafe lag neben ihr und zog die Decken über sie beide. Seine Hand ruhte schwer auf ihrem Bauch. „Annie“, sagte er mit diesem besonderen Unterton, der ihr verriet, dass er sie wollte.
Sie verspannte sich. Nach all dem, was an diesem Tag passiert war, konnte sie sich nicht vorstellen, sich mit ihm im Liebesspiel zu verlieren. „Ich kann nicht“, sagte sie und ihre Stimme klang ein wenig brüchig.
„Warum nicht?“
„Ich habe heute einen Mann getötet.“
Er schwieg einen Moment, dann stützte er sich auf den Ellbogen. „Aber es war ein Versehen. Du wolltest ihn nicht absichtlich umbringen.“
„Das macht für ihn wohl keinen Unterschied mehr, oder?“ Wieder war er still. „Würdest du es denn anders machen, wenn du noch einmal in der Situation wärst?“
„Nein“, flüsterte sie. „Selbst wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn damit töte, hätte ich trotzdem geschossen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, war es ganz und gar kein Versehen.“ „Ich habe im Krieg getötet, oder um meine eigene Haut zu retten. Ich habe gelernt, mir keine Gedanken mehr darum zu machen, warum die Kopfgeldjäger hinter mir her sind. Sie hatten sich dazu entschlossen, also mussten sie die Konsequenzen tragen. Ich kann doch nicht mein Leben lang bedauern, dass es nicht mich erwischt hat, sondern sie.“
Sie wusste das. Und ihr Verstand akzeptierte es auch. Aber ihr Herz war voller Trauer und Entsetzen.
Sein Griff wurde nun fester, als er sie auf den Rücken drehte. „Nicht, Rafe“, sagte sie. „Es wäre nicht richtig.“
Er versuchte, ihr Gesicht in der Dunkelheit auszumachen. Den ganzen Tag war er sich bewusst gewesen, dass sie litt. Und auch wenn er ihr den Schmerz nicht nehmen konnte, verstand er sie und war besorgt, weil es ihr so schlecht damit ging. Er hatte gehofft, dass ihr übereilter Aufbruch sie vom Grübeln abhalten würde, aber das war nicht der Fall gewesen.
Ärzte verpflichteten sich, ein Leben lang, anderen zu helfen. Annie fühlte diese Berufung noch stärker, weil sie hart darum hatte kämpfen müssen, diesen Beruf überhaupt erlernen zu können. Sein kleiner Liebling hatte es nicht einmal fertiggebracht, ihm wehzutun, obwohl sie um ihr Leben gefürchtet hatte. Aber sie hatte ohne Zögern geschossen, um ihn zu beschützen, und jetzt blutete ihr Herz.
Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen
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