Gefangene des Feuers
kein Zimmer hatte. Er hat mich gesehen, aber kein Wort gesagt. Als ich dann in mein eigenes Hotel zurückgegangen bin, sah es so aus, als wäre jemand in meinem Zimmer gewesen. Allerdings fehlte nichts.“
„Woher weißt du dann, dass jemand in deinem Zimmer war?“
Er hob die Schultern. „An Kleinigkeiten, die anders waren als vorher. Ich habe dann in aller Eile meine Sachen gepackt, aber ehe ich fertig war, klopften zwei Polizisten an meine Tür. Ich bin mit dem, was ich am Leib hatte, aus dem Fenster verschwunden. Am nächsten Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass ich gesucht werde, weil ich Tench F. Tilghman erschossen hätte. Tench hatte aber keine Kugel im Leib, als ich ihn gefunden habe.“
„Warum sollte auch jemand einen Mann erschießen, der sowieso schon tot ist?“, fragte Annie verwirrt.
Er warf ihr einen Blick zu, seine Augen dunkel verschattet. „Wenn man jemandem den halben Kopf weggeschossen hat, würdest du dann auf die Idee kommen, dass er an Gift gestorben ist?“
Jetzt verstand sie. „Einen Menschen mit Gift zu töten, erfordert eine gewisse Fachkenntnis. Nicht jeder weiß, wie man es benutzt oder wie viel man braucht.“
„Ganz genau. So wie ein Arzt.“ Erneut zuckte er die Schultern. „Ich hatte keinerlei medizinische Kenntnisse. Wenn also bekannt geworden wäre, dass Tench vergiftet worden ist, würde der Verdacht nicht zwangsläufig auf mich fallen. Ich vermute, dass jemand in mein Hotelzimmer eingebrochen ist, um mich auch zu töten, aber ich war ja nicht da. Außerdem hatte ich Parker Winslow in Tenchs Hotel gesehen, was bedeutete, dass ich ihn mit dessen Tod in Verbindung bringen könnte. Also musste es so aussehen, als sei Tench erschossen worden, damit man mich dafür verantwortlich machen konnte. Da der Mordversuch an mir fehlgeschlagen war, hat man mir den Mord angelastet, um mich hängen zu sehen. Mit Gift kenne ich mich nicht aus, aber ich bin ein verdammt guter Schütze. Natürlich macht es für mich keinen Unterschied, ob ich wegen eines Giftmords gesucht werde oder weil ich jemanden erschossen haben soll. So oder so wird man versuchen, mich zur Strecke zu bringen.“
„Aber warum nimmt jemand so viel auf sich, nur für zweitausend Dollar? Vermutlich hast du zunächst geglaubt, dass Tench aus diesem Grund getötet worden ist.“
„Das stimmt. Also habe ich mich nach Florida aufgemacht, um nachzusehen, was genau Tench dort vergraben hat. Die Bahnhöfe wurden überwacht, also habe ich mein Pferd genommen. Aber ich hatte einen Vorteil auf meiner Seite: Ich wusste, wohin ich musste. Die anderen kannten nur die grobe Richtung.“
„Es ging nicht um das Geld, nicht wahr?“, sagte sie gedehnt, während er sie mit seinen hellen, kalten Augen abwartend ansah. „Es waren die Papiere.“
Er nickte und schien weit weg zu sein, als würde er die Ereignisse, die vier Jahre zurücklagen, noch einmal erleben. „Es waren die Papiere.“
„Hast du die Stelle gefunden, wo Tench sie vergraben hat?“
„Ja. Sie waren alle in Öltuch eingewickelt.“
Schweigend wartete sie, während Rafes Blick wieder zum Horizont schweifte. „Die Regierungspapiere“, sagte er nachdenklich, „dokumentierten Commodore Vanderbilts Finanzhilfe an die Konföderierten.“
Annie überlief es kalt. Diese Papiere bewiesen also nichts weniger als den Verrat eines der reichsten Männer des Landes.
„Bahnschienen sind das Rückgrat einer Armee“, fuhr Rafe in ruhigem, abwesendem Ton fort. „Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Gewinn brachten die Schienen und wurden immer wichtiger. Vanderbilt hat während des Krieges ein Vermögen gemacht. Die Papiere von Präsident Davis enthielten ein Tagebuch, in dem er über Vanderbilts Motive spekuliert hat und warum man einen Krieg verlängern sollte, den er ohnehin schon als aussichtslos bezeichnete. Davis wusste zwar, dass der Krieg schon verloren war, aber mit Vanderbilts finanzieller Unterstützung hat er ihn bewusst weitergeführt.“
„Vanderbilt wusste von den Papieren“, flüsterte sie. „Offensichtlich. Keine Regierung würde so einen Beweis vernichten, ganz egal, wie der Krieg ausgegangen ist. Vanderbilt dagegen würde wohl alles daransetzen, Dokumente verschwinden zu lassen, die belegen, welchen Einfluss er auf das Kriegsgeschehen genommen hat.“
„Er hat zunächst wohl angenommen, dass die Papiere bei Davis’ Flucht verschwunden sind oder dass Davis sie vielleicht selbst vernichtet hat.“
„Als man Präsident Davis
Weitere Kostenlose Bücher