Gefangene des Scheichs: Erotischer Roman (German Edition)
zu Victoria zurückgekehrt, was sie in jenen hitzigen Augenblicken mit Whitby vergessen hatte: Wie ein merkwürdiger Geruch hatten Traditionen und Erwartungen, das, was man ihr beigebracht hatte, sie wieder eingehüllt. Immer intensiver hatte sie empfunden, wie sehr sie in seinen Armen gegen die Regeln verstoßen hatte.
Ihre Familie hatte Erwartungen an sie. Berechtigte Erwartungen. Sie war ein Glied in einer langen Kette, und sie hatte kein Recht, diese Kette zu zerreißen, um eines Whitbys willen. Und nicht nur, dass sie kein Recht dazu hatte – sie bezweifelte, dass sie die Kraft dazu haben würde. Zu tief verwurzelt waren ihre Erziehung und die Traditionen, mit denen sie aufgewachsen war. Außerdem würde sie nie sicher sein können, dass er zu schätzen wissen würde, was sie für ihn aufgegeben hatte. Kurz gesagt – als sie den Knauf zum Salon drehte, war sie nicht mehr als ein Häufchen Elend, dem das schlechte Gewissen aus den Augen starrte und dem alle Euphorie der letzten Nacht nichts als einen üblen Geschmack im Mund hinterlassen hatte.
Es stand kein Essen auf der Kredenz und außer dem Butler war kein Dienstbote anwesend. Stattdessen saß der Anwalt der Familie, Sir Gerald Diller, ein gemütlicher, rundlicher Herr mit fast kahlem Schädel und randloser Brille am Tisch. Er hatte Unterlagen auf der spiegelnden Tischplatte ausgebreitet. Sein kugeliger Körper und die zögerliche Art, mit der sprach, verführten Unwissende dazu, ihn für einen putzigen Trottel zu halten. Eine Fehleinschätzung, die einem im Normalfall nur ein Mal unterlief, hatte man in juristischen Fragen mit ihm zu tun.
Ihre Mutter saß Sir Gerald gegenüber. Ihr Blick war ebenso kalt und starr auf Victoria gerichtet wie der ihres Vaters, der ihr halb zugewandt am Fenster stand.
„Guten Tag“, sagte Victoria, und ihre unsichere Stimme verriet sie eindeutiger, als jeder Satz es vermocht hätte.
„Miss Victoria“, erwiderte Diller und nickte ihr leicht zu.
Sie wusste sofort, dass ihre Eltern ihm das Reden überlassen würden.
„Setz dich bitte!“, sagte ihre Mutter und nur ihre Erziehung und jahrelange Übung schienen sie die Beherrschung nicht verlieren zu lassen.
Victoria tat wie ihr geheißen und saß kerzengerade, als habe sie sicherheitshalber den Stock verschluckt, mit dem sie gleich geprügelt werden sollte.
„Miss Victoria“, hob Sir Gerald an. „Es kam am gestrigen Abend zu einem unschönen Zwischenfall bei der für Sie gegebenen Soiree, bei dem Sie beobachtet wurden. Ich möchte nicht auf die Details eingehen, aber wie mir Ihre Eltern versicherten, sind sie zutiefst bestürzt. Ich wurde daher gebeten, einen … nun … lassen Sie es mich ‚Modus Operandi‘ nennen … auszuarbeiten, mit dem Ihr Ruf wiederhergestellt werden kann.“
„Mein Ruf?“, echote Victoria hilflos, wenn sie auch nur allzu gut wusste, was er meinte.
Der Anwalt ging gar nicht auf ihre Worte ein.
„Hör zu!“, knurrte ihr Vater.
„Ich habe mir erlaubt, bereits heute früh Kontakt mit Ihrem Onkel, dem Marquis of Harrowby, aufzunehmen. Er hat großzügigerweise eingewilligt, Sie als Gast in Harrowby Hall willkommen zu heißen.“
„Harrowby Hall?“ Victoria betete, sie möge sich verhört haben.
Harrowby Hall war das abgelegenste Haus, das sie je gesehen hatte. Es befand sich auf einer Insel unweit der Isle of Skye in Schottland. Dort gab es keinen Wind. Nur Sturm. Und die Bäume trugen selten Laub, sondern reckten lediglich ihre knorrigen Äste den tosenden, bleigrauen Wellen entgegen, die an Land schlugen. Man erreichte Harrowby Hall mit einem Boot oder gar nicht. Es gab keine Brücke und keine Straße. Ein schmaler Weg mäanderte zu einem Strand voller gerundeter Steine, und die einzigen Lebewesen außerhalb des Schlosses waren ein paar Schafe und Highland-Rinder. Ihr schauderte bei dem Gedanken, dort auch nur einen Tag verbringen zu müssen. Für ihren Onkel war das Haus ein perfekter Rückzugsort von all seinen Verpflichtungen, aber für eine junge Frau war es der perfekte Albtraum.
„Sie werden sich dort erholen können, die Landluft und viel Ruhe genießen können.“
„Wie lange muss ich bleiben?“ Ein Sträfling, den man nach Übersee schickte, konnte nicht verzweifelter sein.
„Nun … Das liegt ganz im Ermessen Ihrer Familie. Sobald sich die Wogen in London geglättet haben, kehren Sie nach Hause zurück, und alles wird wieder beim Alten sein.“
Die freundliche, onkelhafte Ruhe, mit der er sprach, ließen die
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