Gefangene Seele
fallen würde, Jade so kurz nach ihrer Rückkehr wieder gehen zu lassen.
Also blieben sie in dem Haus, und zehn Monate nach ihrem Hochzeitstag, schenkte Jade Amy Ann das Leben.
Jade war eine typische junge Mutter: Sie war ein wenig ängstlich, ein wenig weinerlich und sehr, sehr stolz. Und obwohl Amy Ann ein braves Baby war und schon bald die meisten Nächte durchschlief, stand Jade häufig am frühen Morgen auf und schlich ins Kinderzimmer, nur um nachzuschauen, ob es der Tochter gut ging. Eines Morgens bemerkte Jade, dass sie nicht die Einzige war, die nach Amy Ann schaute.
Es war kurz nach Mitternacht, als Jade aufwachte. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, um Luke nicht zu wecken, und ging auf Zehenspitzen in das Nachbarzimmer, wo das Baby schlief. In diesem Augenblick sah sie eine Luftbewegung in der Nähe des Bettes. Es war weder ein Licht noch ein Körper, und dennoch wusste Jade, dass es Raphael war – im Tod ging er denselben Weg wie zu Lebzeiten.
Sie dachte an seinen Namen, ohne ihn auszusprechen, und spürte die Antwort in ihrem Herzen.
Ja, Süße, ich bin’s. Sie ist so hübsch. Genau wie du.
Dann flüsterte Jade leise: “Beschütze sie für mich, Rafie.”
Immer werde ich das tun.
Als Jade wieder zurück ins Bett ging, war ihr leicht ums Herz. Während sie sich wieder in die Arme von Luke kuschelte, dachte sie darüber nach, was sie soeben gespürt hatte.
Am nächsten Tag, als Amy Ann ihren Mittagsschlaf hielt, nahm Jade das Babyfon mit in ihr Studio und griff zum Pinsel. Das, was sie in der Nacht erlebt hatte, bewegte sie so, dass sie es auf einer Leinwand festhalten wollte.
Daher malte sie Raphael und gab ihm das Aussehen, wie sie sich an ihn erinnerte. Doch malte sie ihn transparent und mit schützenden Flügeln, wie er dort am Fußende des Kinderbettchens stand. In dem Bett schlief friedlich ein kleines Baby mit schwarzen Locken. Das innere Licht des Engels schien auf sein Gesicht. Jade nannte das Bild
Der Wächter.
Innerhalb eines Monats hatte sie sieben weitere Gemälde erstellt. Jedes Mal lag ein anderes Kind in der Wiege, aber immer stand der Wächter auf seinem Posten, um ein Kind zu beschützen, das noch nicht auf sich selbst aufpassen konnte.
Am Ende des ersten Jahres hatte Jade zwölf solcher Bilder gemalt und präsentierte sie schließlich zusammen mit anderen Gemälden von ihr in ihrer ersten professionellen Ausstellung einem breiten Publikum.
Sie war erschrocken darüber, dass jedes dieser Bilder zu einem Spitzenpreis verkauft wurde, worüber sich Luke freute. Die Nachfrage nach weiteren Bildern überraschte sie, aber sie tat, was sie konnte, um die Aufträge zu erfüllen. Nach wie vor war es ihr jedoch am wichtigsten, in erster Linie Luke Kelly eine gute Frau und Amy Ann eine gute Mutter zu sein.
Nun, fünf Jahre später, hatten die Wächter-Gemälde weltweiten Ruhm erreicht. In zahllosen Interviews berichtete Jade darüber, dass der Engel in den Bildern ihr alter Freund Raphael war – der Mann, der ermordet worden war. Jade war glücklich darüber, dass weder er noch sein Name vergessen werden würden, weil es diese Gemälde gab.
Aber an diesem Morgen machte sich Jade darüber keine Gedanken, denn es war ein wichtiger Tag in ihrem Leben: Amy Ann wurde eingeschult.
Als Amy Ann in den Kindergarten ging, tauchten Jades alte Ängste wieder auf. Damals war es das erste Mal, dass ihre Tochter nicht in der Obhut der Familie oder der Freunde war. Nun, am ersten Schultag, konnte Jade an nichts anderes mehr denken, als daran, wie klein und verletzlich Kinder waren.
Luke wusste, dass sie sich Sorgen machte, obgleich Jade sich immer bemüht hatte, ihr Kind ihre Ängste nicht spüren zu lassen. Er passte Jade in ihrem Schlafzimmer ab und nahm sie in seine Arme. Sie sah ihn nervös an.
“Süße, du machst dir Sorgen, die sich jede Mutter macht.” Dann seufzte er. “Ich bin darüber auch nicht so glücklich.”
“Nein?”
“Nein. Ich finde es schön zu wissen, dass du und Amy Ann zu Hause seid, wenn ich von der Arbeit zurückkomme. Ich möchte, dass wir spontan etwas gemeinsam unternehmen können. Aber das ist jetzt vorbei. Sie wird immer älter und erwachsener, genau wie du, als wir uns trafen. Veränderungen gehören zum Leben dazu, auch wenn es häufig für diejenigen nicht schön ist, die uns am nächsten stehen.”
Jade verzog das Gesicht, dann lächelte sie. “Ich glaube, du könntest recht haben.”
“Ich
habe
recht.”
Sie lachte.
“Mommy, Daddy, ich bin
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