Gefangene Seele
Fahrt bezahlt, Miss. Mehr ist nicht nötig.”
Jade verstaute das Geld wieder in ihrer Jeans und nickte stumm.
Der alte Mann war schon auf dem Weg nach draußen, als er sich noch einmal zu ihnen umdrehte. Er hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck und schien sie nicht richtig anzuschauen, eher durch sie hindurchzusehen. “Sie werden bald nach Hause zurückkehren, glauben Sie einem alten Mann. Es wird alles gut.”
Eine kalte Welle der Panik erfasste Jade. Sie traute niemandem außer Raphael.
“Ich bin schon zu Hause”, erwiderte sie, ging einen Schritt auf Raphael zu und legte ihren Arm um seine Taille. “Er ist mein Zuhause.”
Clarence zuckte mit den Schultern, als Clarice mit einem Stapel Handtücher den Raum betrat. Sie sah den Blick von ihrem Bruder und fing an zu schimpfen: “Lass’ das, du alter Narr! Du bringst es noch fertig, und verscheuchst mir meine Gäste. Verschwinde jetzt. Zieh’ ab und fahr wieder Taxi und schau, dass du da draußen nicht ertrinkst, hörst du?”
Clarence blinzelte und sah sich irritiert um.
“Was hast du gerade zu mir gesagt, Schwester?”
“Nun geh schon. Es ist schon okay. Du warst gerade nur ein bisschen außer dir … aber jetzt bist du ja wieder bei Verstand. Ich habe gerade gesagt, du sollst da draußen im Regen nicht ertrinken.”
Lächelnd hörte er ihr zu, dann sah er Jade noch einmal kurz an, bevor er ging.
“Sie müssen keine Angst haben”, sagte er im Gehen.
Jade erschauderte, dann folgte sie Clarice ins Badezimmer, die dort die Handtücher hinlegte.
“Ma’am?”
“Schätzchen, nennen Sie mich einfach Clarice.”
“Ja, gut”, sagte Jade. “Eh … wegen Ihres Bruders … Was meinten Sie damit, als Sie sagten, er sei außer sich gewesen?”
Weil sie Angst hatte, die einzigen Gäste, die sie seit Wochen hatte, zu verlieren, tat Clarice so, als sei es nur ein Scherz gewesen. “Ach, mein Bruder tut manchmal so, als könne er in die Zukunft sehen. Er hält sich für einen Seher.”
“Einen was?”
“Er sagt, er habe Visionen. Aber machen Sie sich darüber bloß keine Gedanken. Bei uns in der Familie hört niemand auf ihn. Wir denken eher, dass Momma ihn als kleines Kind hat fallen lassen, und dass er sich den Kopf angeschlagen hat.” Clarice lachte und freute sich über ihren Scherz. “Gehen Sie schon mal ins Speisezimmer. Mein Gumbo-Eintopf ist jetzt bestimmt genau das Richtige für Sie.”
Sie verließ schnell das Zimmer und ließ Raphael und Jade allein.
“Rafie?”
“Was?”
“Was glaubst du, sollte das bedeuten, was der alte Mann gesagt hat?”
“Ich weiß es nicht, Süße. Aber das Gumbo hört sich sehr gut an. Lass uns später auspacken, okay?”
Jade ließ sich gern ablenken, aber ihr ging der Ausdruck auf Clarence’ Gesicht nicht aus dem Kopf. Warum wollte er ihr weismachen, sie würde nach Hause gehen? In ihrer Welt gab es kein Zuhause.
Luke war seit zwei Tagen in San Francisco. Er hatte die Veranstalterin des Marktes aufgespürt. Von ihr erfuhr er, dass der Marktstand, an dem Shelly Hudson das Porträt von Margaret gekauft hatte, von einer Frau namens Laurel Ann Hardy gemietet und sofort bar bezahlt worden war. Er lachte, als die Marktleiterin ihm den Namen vorlas. Sams Tochter hatte anscheinend Humor. Der Name, den sie ihr genannt hatte, war ein Wortspiel aus Stan Laurel und Oliver Hardy, die im Fernsehen als Komiker-Duo Dick und Doof bekannt waren. Um es noch schwieriger zu machen, sie zu finden, hatte Sams Tochter eine Adresse angegeben, die es nicht gab. Luke befragte die Händler, die links und rechts von ihrem Stand ihre Ware verkauft hatten, aber auch sie konnten ihm nichts sagen, was ihm weitergeholfen hätte.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit war er keinen Schritt weitergekommen, Jade Cochrane zu finden. Er stand noch ganz am Anfang.
Er rief Sam an, aber nur der Anrufbeantworter nahm das Gespräch an. Luke hinterließ eine kurze Nachricht und versprach, sich am nächsten Morgen wieder zu melden. Dann suchte er sich ein Taxi und fuhr zurück in sein Hotel.
Sobald er in seinem Zimmer war, schaltete er den Fernseher an, zog Schuhe und Kleidung aus, um zu duschen. Am Abend war er mit einem alten Studienkollegen zum Essen verabredet, und er hatte nicht mehr viel Zeit.
Als er später aus dem Badezimmer kam, war er glatt rasiert und duftete gut. Er freute sich auf die Verabredung, denn er hatte seinen Freund seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Der Fernseher lief nebenher, als er sich wieder anzog. Aber erst, als
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