Gefangene Seele
einen ihrer Peiniger aus Kindertagen wieder treffen würde. Die Chance, dass das geschehen würde, war sehr klein, aber Raphael hatte schon seit Langem akzeptiert, dass, sollte der Fall eintreten, er diesen Mann würde töten müssen. Jade erwartete das von ihm, wie er es auch von sich selbst erwartete.
Einige Augenblicke später hielt das Taxi an einer roten Ampel. Der Fahrer sah Raphael im Rückspiegel an.
“Sind Sie nur zu Besuch hier, oder wollen Sie länger bleiben?”
“Wenn alles gut klappt, werden wir wohl länger bleiben”, antwortete Raphael.
Der alte Mann nickte und kratzte sich am Kopf, bevor er wieder nach vorne sah. Es war immer noch rot. Dann sah er wieder in den Rückspiegel.
“Junge, Sie und Ihre Lady sehen mir wie nette Menschen aus, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern einen Rat geben: Vielleicht sollten Sie sich ein anderes Hotel suchen.”
Plötzlich wurde Jade auf die Unterhaltung aufmerksam. Sie stützte sich auf der Lehne des Vordersitzes ab und lehnte sich vor.
“Warum? Was stimmt mit dem Hotel nicht?”
Der alte Mann sah sie über seine Schulter hinweg an. Seine dunklen Augen schienen etwas in Jades Gesichtsausdruck zu erkennen, was ihn dazu brachte, nicht zu antworten. Schließlich sagte er mit seiner ruhigen sanften Stimme und dem typischen Südstaaten-Akzent: “Ach, es geht mich auch nichts an. Aber das Hotel, das Sie sich da ausgesucht haben, ist nachts ziemlich geschäftstüchtig, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
Raphael legte seine Hand auf Jades Rücken. Zwar war es nur eine leichte Berührung, aber das reichte, um Jade zu beruhigen. Sie lehnte sich zurück. Auch wenn die beiden ein Leben führten, das von Wohlbehütetheit weit entfernt war, waren sie immer bemüht, sich von Leuten, die auf der Straße lebten und dort ihr Geld verdienten, fernzuhalten. Sie versuchten einfach nur, irgendwie auf der Straße zu überleben.
“Danke für Ihren Hinweis”, sagte Raphael. “Wenn Sie eine bessere Alternative kennen, möchten wir sie gern wissen.”
Zum ersten Mal lächelte der Taxifahrer. Dabei erschienen auf seinem kaffeebraunen Gesicht unzählige Falten.
“Meine Schwester Clarice hat eine wirklich nette kleine Pension unten im Quarter. Es ist nichts Besonderes, aber es ist sauber und sicherer als dieses Hotel.”
“Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns dorthin bringen würden”, antwortete Raphael. “Nur so: Wie heißen Sie?”
“Clarence Deauxville. Clarice ist meine Zwillingsschwester.”
Raphael nickte. “Meine Freunde nennen mich Rafie, das ist Jade.”
Clarence drehte noch einmal den Kopf. “Wollen Sie sich die Pension mal anschauen?”
Raphael sah Jade an, die nervös nickte. “Ja, bitte.”
Clarence lächelte noch breiter. Als die Ampel auf Grün umsprang, beschleunigte er auf der Kreuzung und bog in die nächste Straße rechts ab. Er sprach, ohne sich umzuwenden. “Es sind nur noch ein paar Minuten, dann sind Sie da und endlich aus diesem Regen raus.”
Jade betrachtete den Fahrer mit einem Stirnrunzeln und schmiegte sich dann an Raphael an. Sie glaubte nie daran, dass Fremde einfach so freundlich sein konnten. Aber Raphael drückte sie an sich, und sie hatte es gründlich satt, unterwegs zu sein. Die Idee, sich auf einem Bett ausstrecken zu können, egal, wie das Bett aussah, war einfach zu verlockend.
“Es wird schon in Ordnung sein”, flüsterte Raphael. “Außerdem können wir uns immer noch etwas anderes suchen, wenn es uns dort nicht gefällt.”
Jade entspannte sich, aber nicht ganz. Erst, als sie ihr Ziel erreicht hatten, verschwand ihre Nervosität fast völlig.
Die Pension war ein altes, schmales zweigeschossiges Gebäude. Es lag auf einem kleinen Grundstück, das es fast ganz einnahm, und das auf drei Seiten von einem großen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Nur die Front der Fassade war von der Straße aus zugänglich. Das winzige Stück Rasen, das den Vorgarten darstellte, war voller Pfützen. Vor dem Eingang befand sich eine hölzerne Veranda.
“Das mit dem Wetter tut mir sehr leid”, sagte Clarence, als Raphael ihm das Geld für die Fahrt in die Hand zählte. “Gehen Sie nur schon auf die Veranda, ich bringe Ihnen die Taschen gleich.”
Wieder zögerte Jade, weil sie fürchtete, der Mann würde mit ihrem Gepäck davonfahren.
Wieder schien Clarence zu ahnen, was sie dachte und nicht aussprechen konnte.
“Es ist schon in Ordnung, Fräulein. Nicht alle wollen Ihnen Böses antun. Ich bringe
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