Gefangene Seele
rannen ihr Gesicht herab. “Sprich nicht davon, dass du sterben wirst! Bitte sprich nie davon! Ich liebe dich. Du bist mein Bruder und mein Freund. Du bist der Einzige, dem ich jemals vertrauen werde.
Ich
werde mich an dich erinnern.
Bestimmt werde ich das!”
Raphael verdrängte diese Gedanken schnell, er wollte sich damit nicht mehr beschäftigen, denn was er gesagt hatte, war wahr. Im Moment musste er einfach versuchen, Jade davon zu überzeugen, dass es das Richtige war, ihren Vater zu treffen.
“Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich gerade so selbstmitleidig geklungen habe, das wollte ich nicht”, gab er zu und zwang sich zu lächeln, auch wenn ihm selbst zum Weinen zumute war. Er wischte mit der Hand die Tränen von ihrer Wange und kniff sie in die Nasenspitze. “Deine Nase ist ganz rot.”
“Das ist deine Schuld”, schmollte sie. “Du hast mich zum Weinen gebracht.”
“Dann tut es mir leid”, beschwichtigte Raphael sie. “Aber du musst zu deinem Vater zurückgehen. Und wenn du es nicht um deinetwillen machst, dann tue es bitte für mich.”
Raphaels Bitte beschämte Jade. Im tiefsten Inneren ihres Herzens wusste Jade, dass es richtig war, ihren Vater zu treffen, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater sie auch treffen wollte, wenn er die ganze Wahrheit über sie erfuhr.
“Ja, ich gehe hin”, sagte sie. “Wir gehen zusammen. Aber wenn dieser Sam Cochrane uns nicht mag, dann gehen wir wieder fort, das musst du mir versprechen.”
“Süße, das kann gar nicht sein, dass er dich nicht mag.”
In Jades Augen blitzte es böse auf. “Du hörst mir nicht zu. Ich sagte, wenn er
uns
nicht mag.”
Raphaels Herz schlug schneller.
Wir.
Dieses Wort versprach einen Luxus, den es in seiner Welt eigentlich nicht mehr gab. Er wusste nicht, wie er es länger ertragen sollte.
“Es geht schon in Ordnung”, sagte Raphael und bemerkte dann, dass Luke wieder auf sie zukam. “Da kommt Luke.”
Jade sah nicht in seine Richtung.
Raphael hob mit einem Finger ihr Kinn an, sodass sie ihn ansehen musste. “Ich möchte, dass du ihm eine Chance gibst. Ich finde, er wirkt wie ein Mensch, dem wir vertrauen können.”
“Das kannst du gern für mich mit übernehmen”, antwortete sie.
Raphaels Stimme wurde plötzlich tiefer, und zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben schlug er einen ärgerlichen, fast harschen Ton an. “Verdammt, Jade! Versuch doch einmal, nicht so unversöhnlich zu sein, okay? Nicht jeder Mann, der sich auf diesem Planeten befindet, hat es sich zum Ziel gesetzt, dich zu verletzen. Und du kannst nicht die ganze Zeit so tun, als würdest du es nicht wissen!”
Sein Ton erschreckte Jade. Es sah ihm so gar nicht ähnlich, lauter zu werden, sodass sie erst einmal gar nichts sagte. Als Raphael sich mit den Händen durch die Haare fuhr und sich umdrehte, hielt sie ihn am Arm fest.
“Raphael!”
Er hielt inne, dann ließ er den Kopf hängen und die Schultern fielen ein Stück nach vorne. Sofort drehte er sich um und sah sie mit schuldbewusstem Gesicht an.
“Es tut mir leid, ich hätte nicht …”
“Ich tue, was du mir sagst”, antwortete Jade schnell, bevor er weitersprechen konnte. “Nur sei mir nicht böse, Rafie. Ich ertrag es nicht, wenn du mir böse bist.”
Raphael wollte sich am liebsten in ein Bett verziehen, sich die Decke weit über den Kopf ziehen und warten, bis alles vorbei war. Aber das ging nicht, denn es gab Dinge, die er tun musste, bevor er sich um sich selbst kümmern konnte.
“Ich bin dir nicht böse, Baby. Ich bin dir nie böse. Ich bin nur wütend auf die Situation. Ich verstehe ja, warum du dich so fühlst, wie du dich fühlst, aber du musst das überwinden.”
Als Jade zu sprechen anfing, unterbrach er sie mit einer Geste. “Warte. Das eine muss ich dir noch sagen. Ich bitte dich nicht darum zu vergessen, was man dir angetan hat … was man uns beiden angetan hat … aber ich sage dir, dass du diese Erinnerungen überwinden musst. Das müssen wir beide. Wenn wir die Erinnerungen nicht überwinden, dann haben die Schweine, die unser Leben versaut haben, immer noch Macht über uns. Dann haben sie gewonnen. Verstehst du, was ich meine? Nur, weil wir Solomon vor all diesen Jahren entkommen sind, sind wir noch nicht frei. Solange du noch diese Hölle von damals in deinem Kopf hast, sind wir immer noch seine Gefangenen.”
“Oh … Rafie! Warum hast du mir das noch nie zuvor gesagt?”
“Ich weiß es nicht. Vielleicht haben wir bisher keine andere Wahl
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