Gefangene Seele
in Raphaels Wange zuckte. “Ja, ich weiß, es sieht so aus, als seien wir zusammen. Ich meine, wir waren schon immer zusammen, so lange wir denken können. Aber wir waren nie ein Paar. Sie hat der Himmel geschickt. Sie haben Jade im richtigen Moment aufgespürt. Ich war schon ganz panisch, wenn ich darüber nachgedacht habe, was aus ihr werden würde, wenn ich tot bin. Sie sehen ja, was für ein Mensch sie ist. Sie geht in der normalen Welt unter, sie kann einfach nicht normal leben … jedenfalls noch nicht. Sie braucht Hilfe und Unterstützung. Sie braucht eine ganze Menge Hilfe. Ich bemühe mich seit Jahren, sie darin zu unterstützen, das zu überwinden, was uns in der Kindheit zugestoßen ist, aber es gelingt mir nicht. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ich muss einfach wissen, dass es ihr gut geht. Ich muss wissen, ob man dem Mann, der behauptet, ihr Vater zu sein, vertrauen kann. Und ich muss auch sichergehen, ob ich Ihnen vertrauen kann.”
Luke wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Wie versicherte man einem Menschen, der zum Sterben verurteilt war, dass man sich um seine Familie kümmern würde?
“Sam ist ein feiner Mensch. Er hat längst akzeptiert, dass das Leben seiner Tochter vermutlich nicht so aussieht, wie man gemeinhin annimmt. Solange er sie wieder in seinem Leben hat, kann ich Ihnen garantieren, dass er sich nichts aus Jades Vergangenheit macht. Und was das angeht, ob Sie mir vertrauen können: Ich geben Ihnen mein Wort, dass ich immer sicherstellen werde, dass es Jade gut geht, dass sie in Sicherheit und glücklich ist.”
Raphael seufzte. Es war ihm klar, dass Luke Kelly sehr von Jade eingenommen war. So wie viele Männer. Aber er musste vorsichtig sein. Dieser Mann musste außerdem wissen, dass seine Gefühle wahrscheinlich nie erwidert würden. Aber es gab eine Grenze, an die Raphael gehen konnte, er hatte dem Fremden eigentlich schon zu viel verraten. Er durfte Jade nicht hintergehen, das durfte er auf keinen Fall tun. Aber er hätte es auch nie gekonnt.
“Ja, okay”, sagte er. “Aber das kann ich wohl am besten selbst beurteilen. Ich glaube, dafür reicht meine Zeit noch.”
In der Zwischenzeit hatten sich Jade und Clarence begrüßt. Raphael nickte zu ihr herüber und lächelte.
“Guten Tag, Fräulein”, sagte Clarence und gab Jade ihre Tasche. Sie schaute ihn misstrauisch an, stellte die große Tasche auf den Boden und zog den Reißverschluss auf.
“Es ist noch alles drin”, griff Clarence ihr vor. “Ihre Kiste mit den Bildern und den Farben ist noch oben im Büro.”
Es ging Jade nicht um den Karton mit den Bildern. Sie griff mit der Hand in die Tasche und tastete zwischen den Kleidungsstücken und ihrem zweiten Paar Schuhe nach der Schachtel mit den Gesichtern. Fast wäre sie in Panik ausgebrochen, als ihre Fingerspitzen endlich über die kühle glatte Oberfläche der alten Schachtel glitten, die auf dem Boden der Tasche lag. Sie entspannte sich und stand auf. Neugierig schaute sie ihn an und fragte sich, was für ein seltsamer Zufall es war, dass Clarence in genau jenem Augenblick auftauchte, als sie sich entschlossen hatte zu gehen.
“Ich bin überrascht, Sie zu sehen”, sagte sie.
Clarence sah sie an, dann schaute er an ihr vorbei in den Raum. “Sie verreisen, da brauchen Sie doch Ihre Sachen.”
“Woher wissen Sie das?”, fragte Jade.
“Vertrauen Sie dem großen Mann”, antwortete er nur. Neben ihnen rannte ein Kind vorbei, es stolperte und fiel dann auf den Boden. Als das Mädchen anfing zu weinen, kam ihre Mutter schnell herbei und Clarence schien aus seinem Traum aufzuwachen.
“Es tut Clarice schrecklich leid, dass sie nicht bleiben konnten. Aber es wird eine Weile dauern, bis sie das Hotel wieder eröffnen kann, weil so viel repariert werden muss.”
Jade war sich sicher, dass er nicht auf die Frage antworten würde, die sie ihm zuvor gestellt hatte und beschloss, es dabei zu belassen, dass Clarence wohl ein seltsamer Mensch war. Immerhin waren er und seine Schwester sehr nett zu ihnen gewesen.
“Es tut mir sehr leid für Clarice”, sagte Jade, “die Pension war so hübsch.”
“Na, man kann die Schäden wieder reparieren”, sagte er leise. Dann veränderte sich sein Blick wieder. “Und Sie können es auch.”
Jade zuckte zusammen. “Was meinen Sie damit?”
“Schlimme Dinge sind passiert und werden immer wieder geschehen. Vertrauen Sie darauf, dass der große Mann Sie beschützt.”
Jade fühlte sich nicht
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