Gefangene Seele
gehabt, als so zu leben, wie wir es getan haben.”
“Okay, okay. Ich verspreche dir, dass ich nach St. Louis fahren werde. Wenn Sam Cochrane wirklich ein guter Mensch ist, dann bleiben wir dort. Wir werden dort ein neues Leben anfangen … ein besseres Leben. Ich bin sicher, du hast recht.”
Raphael seufzte. Er war sich nicht sicher, ob Jade es damit ernst meinte, oder ob sie ihm einfach zustimmen wollte, um ihm einen Gefallen zu tun. Vielleicht hatte sie aber auch wirklich verstanden, was er ihr mitteilen wollte. Auf alle Fälle hatte sie zugestimmt, nach St. Louis zu gehen, und das war alles, was zählte. Mit der Zeit würde sich alles andere regeln.
“Das ist schön, Süße. Es wird dir nicht leidtun.” Dann drehte sich Raphael um und sah Luke an.
“Guck mal, da kommt Clarence”, rief Raphael aus.
Luke drehte sich um, während ein alter dunkelhäutiger Mann den Schlafsaal betrat und sich durch die Reihen mit Liegen schlängelte. Er trug zwei große Reisetaschen.
“Das ist Clarence mit unseren Sachen”, sagte Jade und ging auf ihn zu.
Luke wollte ebenfalls losgehen, als ihn Raphael am Ärmel festhielt.
“Lassen Sie sie”, sagte er bestimmt. “Ich muss mit Ihnen kurz sprechen.”
Luke zuckte mit den Schultern. “Ja, sicher”, sagte er und setzte sich dann neben Raphael auf eine leere Pritsche.
“Ich bin krank”, sagte Raphael.
Luke sah ihn fragend an. “Mensch, warum haben Sie das denn nicht schon früher gesagt? Ich glaube, ich habe einen wachhabenden Arzt auf dem Weg in den Schlafsaal gesehen.”
“Das meine ich nicht”, unterbrach ihn Raphael. “Ich bin schon seit langer Zeit krank.”
Luke sah ihn weiter an und betrachtete sein Gesicht aufmerksam. Es fiel ihm ein, dass Jade möglicherweise nichts von seiner Krankheit wusste, so, wie sich der junge Mann benahm.
“Gehen Sie zum Arzt?”
Raphael lächelte müde. “Hin und wieder war ich auf einer Sozialstation, um mit einem Arzt zu sprechen, aber so, wie wir leben … wir sind ja die ganze Zeit unterwegs und ich habe kein Geld …”
Luke legte seine Hand auf Raphaels Knie. Es war eine kurze, freundliche Berührung, die ihm ein wenig Hoffnung machen sollte, aber Luke spürte, wie sich Raphael anspannte. Er mochte ebenso wenig berührt werden wie Jade. Kommentarlos nahm er seine Hand wieder zurück und beschloss, Sam ein paar Hinweise im Umgang mit den beiden zu geben.
“Machen Sie sich keine Sorgen über die Arztrechnungen”, sagte Luke. “Jades Vater ist ziemlich reich. Er wird schon dafür sorgen, dass Sie die bestmögliche medizinische Versorgung bekommen.”
“Aber wir haben noch nicht mal eine Krankenversicherung!”
“Ja, das habe ich mir schon gedacht. Trotzdem.”
Raphael atmete langsam ein und überlegte noch einmal, was er dem Mann gleich sagen würde. Luke Kelly hatte ein offenes, ehrliches Gesicht. Er schien sehr selbstbestimmt zu sein, so wie er auftrat. Auch war er zu Jade sehr nett, ohne über sie bestimmen zu wollen. Raphael atmete mit einem Stoßseufzer aus.
“Die Ärzte können mir nicht mehr helfen”, sagte er schließlich. “Ich habe Aids, meine Immunwerte sind bereits im Keller, und ich habe Krebs, der mich auffrisst.”
“Oh mein Gott”, sagte Luke leise. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er sah zu, wie sich Jade und der alte Mann begrüßten. “Und sie weiß es noch nicht, richtig?”
Raphael schluckte schwer. “Nein, sie weiß von nichts, und ich würde Sie darum bitten, dass …”
“Schon gut, ich verstehe”, unterbrach ihn Luke. “Ich verstehe schon.” Dann fiel ihm noch etwas ein, etwas das ihn noch mehr verstörte als das, was er gerade gehört hatte. “Haben Sie mit ihr Safer Sex? Ich meine, wenn Sie ohne ihr Wissen …”
Wieder unterbrach ihn Raphael. “Wir schlafen nicht miteinander. Unsere Beziehung ist anders. Sie ist wie eine Schwester … sie ist meine beste Freundin. Außerdem, auch wenn ich es gewollt hätte, ich hätte nie …” Er hielt inne und schüttelte den Kopf, so undenkbar war für ihn der Gedanke irgendetwas zu tun, das Jade schaden könnte.
Luke war überrascht. Die Art und Weise, wie Jade und Raphael miteinander umgingen war so vertraut, so zärtlich, dass er gewettet hätte, dass sie ein Liebespaar waren.
“Okay, ich musste Sie einfach fragen, verstehen Sie? Ich wollte damit nicht sagen, dass es nicht in Ordnung gewesen wäre, wenn Sie beide ein Liebespaar wären, ich meine … Sie wirken auf mich so, verstehen Sie, was ich meine?”
Ein Muskel
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