Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
labil gewesen zu sein. Einmal, lang bevor ihr Mann sie tatsächlich fand, hatte sie ihrem Bericht zufolge Halluzinationen und glaubte, ihren Mann im Haus zu hören. Bei einem Gemeindefest – einem großen Weihnachtsfeuer, das am Heiligen Abend im Gemeindepark angezündet worden war – wurde sie, offenbar von Angst überwältigt, ohnmächtig.
Zweifellos stand Mrs. English während ihres Aufenthalts in St. Hilaire unter starker seelischer Belastung. Sie war mit ihrem kleinen Kind mehr als achthundert Kilometer mit dem Auto gefahren, in eine Gegend, die ihr völlig fremd war. Bei ihrer Ankunft herrschte dort klirrende Kälte. Sie selbst und ihr Kind waren bei schwacher Gesundheit. Sie lebte von dem Geld, das sie ihrem Mann in der Nacht ihrer Flucht aus der Brieftasche genommen hatte. Sie war seit nahezu einem Jahr nicht mehr beruflich tätig und hatte in Maine kaum Aussichten auf eine adäquate Beschäftigung. Sie reiste unter falschem Namen, sie gab falsche Auskünfte über ihre Herkunft, sie erzählte den Leuten, mit denen sie zu tun hatte, unterschiedliche Geschichten. Sie versuchte, ein neues Leben anzufangen – als Mary Amesbury.
Everett Shedds Gemischtwarenladen in St. Hilaire war immer schon der allgemeine Treffpunkt. Dieser Tage jedoch herrscht dort Hochbetrieb. Jeden Tag nach dem »Gezerre drüben in Machias« kommen die Dorfbewohner in dem kleinen Laden zusammen, der vollgestopft ist mit Lebensmitteln, Gegenständen des täglichen Gebrauchs, Fischereizubehör und gekühltem Bier, um über den Prozeßverlauf zu diskutieren. Sie stellen Mutmaßungen darüber an, wer an diesem Tag den Gerichtssaal als Sieger verlassen hat, und geben ihre Kommentare darüber ab, wie Mary Amesbury im Zeugenstand gewirkt hat.
Auf den ersten Blick ist St. Hilaire ein typisches Fischerdorf Neu-Englands – malerisch und verschlafen. Es gibt den charakteristischen weißen Kirchturm, den Gemeindepark, die alten Kolonialhäuser, den kleinen Hafen, in dem Flut und Ebbe kommen und gehen. Aber wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, daß das Leben in St. Hilaire nicht so simpel ist, wie es zu sein scheint. Shedd, der ein Glasauge hat, einen derben Dialekt spricht und neben seinem Laden das Amt des Dorfpolizisten versieht, weiß zu erzählen, daß der kleine Ort schon einmal bessere Zeiten gesehen hat.
»Vor hundertfünfzig Jahren hat hier der Schiffbau geblüht, aber jetzt ist das Dorf wirtschaftlich auf dem Hund«, sagt er. »Die meisten Häuser stehen leer, und die jungen Leute gehen weg, sobald sie aus der High-School kommen, weil sie hier keine Chance sehen.«
Das Hauptgeschäft dieser und anderer Orte an diesem Küstenstrich bildet der Verkauf von Hummern und Muscheln, die die Männer hier aus dem Meer holen. Ein Stück landeinwärts verdienen sich einige Familien mit dem Betrieb von Heidelbeerplantagen einen mageren Lebensunterhalt, aber überall spürt man, daß die Menschen hier mit harten Zeiten zu kämpfen haben. Die Häuser sind zwar reizvoll, aber der Anschein von Wohlhabenheit fehlt ihnen. Kleine pinkfarbene und hellblaue Wohnwagen, viele alt und rostig, verunstalten die Landschaft. In diesem Ort, sagt Shedd, leiden die Frauen in den Wintermonaten häufig an Schwermut, ist Inzucht infolge der isolierten Lage keine Seltenheit (Shedd zufolge gibt es im Dorf eine Frau mit drei Brüsten, und immer wieder fällt dem Besucher ein offenbar allgegenwärtiges Familienmerkmal bei den Dorfbewohnern auf – eine Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen), kommt es gelegentlich vor, daß ein Hummerfischer über Bord gerissen wird und ertrinkt, herrschen Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Es ist ein Ort vergeblichen Bemühens und gescheiterter Hoffnungen.
»Sie brauchen bloß die Touristenprospekte zu lesen«, sagt Shedd. »Über St. Hilaire steht fast nichts drin. Hier gibt’s nichts, was der Erwähnung wert wäre.«
In diesem kalten und unwirtlichen Dorf am Meer traf Mrs. English am Abend des 3. Dezember ein. Sie blieb eine Nacht im Gateway Motel , gleich nördlich vom Ort, und mietete dann von Julia Strout, einer Witwe, die im Dorf großes Ansehen genießt, ein kleines Ferienhaus in Flat Point Bar. Dort führte sie ihren eigenen Worten zufolge ein ruhiges, zurückgezogenes Leben im Stil einer Hester Prynne, begann sogar, ganz wie Hawthornes Heldin, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen. »Ich habe das Haus und mein Leben dort geliebt«, sagte sie. »Ich habe gelesen, gestrickt, lange Spaziergänge gemacht und mich
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