Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
berücksichtigt, scheint klar – vorausgesetzt, wir glauben Mrs. Englishs Ausführungen in ihrem schriftlichen Bericht –, daß Strout sich im Haus befand, als sie ihren Mann erschoß. »Ich hob den Arm und zielte«, schreibt sie. »Ich hörte ein Geräusch. Es war Jack. Er kam durch das Zimmer. Ich richtete die Pistole auf Harrolds Herz. Ich drückte ab.«
Shedd, der wenig später im Haus eintraf, ist der Meinung, sie hätten Strouts Anwesenheit im Haus zum Zeitpunkt der Tat vor der Öffentlichkeit bestritten, um sich gegenseitig zu schützen. »Wenn Jack gesagt hätte, er sei im Haus gewesen, als Mary ihren Mann erschoß, hätte von Notwehr keine Rede mehr sein können. Und Mary hat den Zeitpunkt von Jacks Erscheinen verlegt, weil sie ihn nicht in die Sache hineinziehen will.«
Wenn jedoch Strout das Haus tatsächlich betreten hat, bevor Mrs. English schoß, warum hat sie dann überhaupt geschossen? War denn nicht Strouts Anwesenheit Schutz genug? Oder ging es in Wirklichkeit gar nicht um Notwehr, sondern hatte sie, wie Pickering behauptet, einen ganz anderen Grund, den Tod ihres Mannes zu wünschen?
Mrs. English beharrt darauf, aus Notwehr geschossen zu haben. »Wenn Harrold lebte, hätte ich kein eigenes Leben.«
Obwohl Pickering in seinem einleitenden Vortrag behauptete, das Tatmotiv sei in der Liebesbeziehung zu suchen, behandelte er Strout im Zeugenstand weit rücksichtsvoller als Beobachter erwartet hatten. So stellte er beispielsweise Strout in keinem der beiden Verfahren die Frage, ob er sexuelle Beziehungen zu Mrs. English unterhalten habe. In Shedds Laden hat Pickerings Zurückhaltung Strout gegenüber Anlaß zu allerhand Spekulationen gegeben. Die einen meinten, der Staatsanwalt habe Strout nicht härter in die Zange nehmen wollen, weil Mrs. Englishs Aussage, es habe eine »Beziehung« bestanden, aufschlußreich genug sei. Die anderen behaupteten, Pickering habe sich zurückgehalten, weil es nicht nur bei der Öffentlichkeit, sondern auch bei Geschworenen und Richtern schlecht angekommen wäre, wenn er einem bereits schwer von Schuldgefühlen und Kummer gepeinigten Mann hart zugesetzt hätte. Der vielleicht traurigste Aspekt nämlich dieser Geschichte ist der Tod von Strouts Frau Rebecca keine zwölf Stunden nach der Schießerei.
Bei seiner Heimkehr am Morgen des 15. Januar hat Strout seiner Frau offenbar von dem Vorfall in Flat Point Bar erzählt. Ob er ihr auch seine Beziehung zu Mrs. English gestanden hat, ist ungewiß. Aber später am selben Tag, als Everett Shedd Strout nach Machias zur Polizeidienststelle brachte, wo er seine Aussage zu Protokoll geben sollte, fuhr Rebecca mit dem schwarzen Chevrolet Pick-up ihres Mannes zum Kap hinaus.
Mrs. Strout war eine große, magere Frau von dreiundvierzig Jahren. In der High-School war sie einmal zur Schönheitskönigin gewählt worden, in den letzten Jahren jedoch zeigte sie sich, von chronischen Depressionen geplagt, kaum noch in der Öffentlichkeit.
An dem Tag, als sie nach Flat Point Bar hinausfuhr, trug sie einen langen marineblauen Mantel, ein blaues Halstuch und schwarze Gummistiefel. Sie scheint mit dem Ruderboot ihres Mannes zu seinem Kutter hinausgefahren zu sein, der ihren Namen trug. Von dem Kutter aus stürzte sie sich ins Meer.
Ihre Taschen und Stiefel waren mit Kieseln vom Strand gefüllt. Dem Autopsiebefund zufolge ist sie auf der Stelle ertrunken.
Das ganze Dorf suchte die Nacht durch nach ihr. Man fand die Leiche am folgenden Morgen in der Schlammzone von Flat Point Bar – ironischerweise beinahe direkt unterhalb des kleinen weißen Hauses, in dem die Geliebte ihres Mannes am Tag zuvor einen Mord begangen hatte.
»Ich kann es kaum ertragen, an Rebecca zu denken«, sagt Julia Strout. Mrs. Strout hat auf ihren Antrag hin das vorübergehende Sorgerecht für Caroline, die kleine Tochter des Ehepaars English erhalten.
»Ich bin traurig, vor allem der Kinder wegen«, fügt sie hinzu. »John und Emily, Rebeccas Kinder, und jetzt dieses Kleine … Es ist wirklich tragisch.«
Cotton hat während beider Prozesse nicht einen Moment die milde Freundlichkeit verloren, die sein Auftreten kennzeichnet. Cottons Vater war Fischer auf Beals Island – einer Insel südlich von St. Hilaire, die durch einen Damm mit Jonesport verbunden ist. Dort lebt der Anwalt auch heute noch mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Er ist in dieser Gegend ein bekannter Mann, hat er doch schon des öfteren einheimische Fischer verteidigt, die Wilderer
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