Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
um mein Kind gekümmert. Es war ein einfaches und gutes Leben.«
Dieses Vorbringen stiller Häuslichkeit hätte ihr vielleicht bei ihren beiden Prozessen mehr geholfen, gäbe es da nicht ein kritisches Detail, das in den Augen mancher in scharfem Gegensatz zu ihrer Behauptung steht.
Kaum einen Monat nach ihrer Ankunft in St. Hilaire begann Mrs. English eine Liebesbeziehung zu einem Fischer aus dem Dorf, einem verheirateten Mann mit zwei Kindern. Dieser Mann, Jack Strout, dreiundvierzig Jahre alt (ein Vetter von Julia Strouts verstorbenem Ehemann), war an dem Morgen bei ihr, als sie Harrold English erschoß.
»Ich hab schon am Heiligen Abend gemerkt, daß zwischen Jack Strout und Mary was war«, sagt Beale. »Und eines kann ich Ihnen sagen: Jack ist bestimmt nicht derjenige, der den ersten Schritt gemacht hat. Er war seiner Frau vorher, bevor er Mary kennengelernt hat, immer treu. Ich hab Mary immer gemocht, aber im Nachhinein muß ich schon sagen – die hat nichts anbrennen lassen.«
Strout ist ein hochgewachsener, schlanker Mann mit hellbraunem lockigen Haar. Seine Tochter Emily, fünfzehn, lebt noch Zuhause, sein Sohn John, neunzehn, studiert an der Northeastern Universität. Strout selbst studierte eine Zeitlang an der Universität von Maine und wollte eine Dozentenlaufbahn einschlagen. Doch nach seinem zweiten Jahr erlitt sein Vater einen schweren Unfall, der den jungen Jack zwang, nach Hause zurückzukehren und das Geschäft des Vaters zu übernehmen. Strout war zu einem Interview für diesen Bericht nicht bereit, er scheint jedoch in St. Hilaire gutangesehen zu sein. Sein grün-weißes Hummerboot liegt seit Jahren in dem Kanal von Flat Point Bar.
Mrs. English begegnete ihrer Darstellung zufolge Strout eines Abends, als sie auf der Landzunge einen Spaziergang machte. Wenig später wurde sie seine Geliebte. Sie hat die Beziehung in ihrer schriftlichen Darlegung recht anschaulich geschildert. Strout pflegte morgens vor Tagesanbruch zu ihr zu kommen und zu bleiben, bis er mit seinem Boot hinausfuhr. Sie sagte, ihre Beziehung sei etwas ganz »Natürliches« gewesen, sie hätten einander gebraucht.
Anfangs waren die beiden anscheinend diskret, aber Beale, der häufig draußen auf dem Kap war, um seine Reusen zu flicken, erinnert sich, sie zusammen gesehen zu haben.
»Ich hab sie an einem Sonntag mit Jacks Boot zurückkommen sehen«, berichtet er, »und ich hab sie zusammen vor ihrer Haustür gesehen. Da sind sie sehr vertraut miteinander umgegangen.«
Diskretion war wichtig wegen Strouts Frau, Rebecca. Sie litt an schweren Depressionen, die offenbar kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes das erstemal auftraten. Strout hatte Angst davor, wie seine Frau reagieren würde, wenn ihr etwas von der Affäre zu Ohren käme.
Dennoch begleitete Strout am Montag vor der Schießerei Mrs. English zu einer Klinik in Machias, als ihre kleine Tochter plötzlich hohes Fieber bekam. Nach diesem Besuch telefonierte der Arzt mit dem Kinderarzt des Kindes, der seinerseits Harrold English über den Aufenthaltsort seiner Frau unterrichtete. An eben diesem Montag beobachtete Beale Strout an Mrs. Englishs Haustür in »vertrautem Umgang« mit seiner Geliebten.
Mrs. English zufolge war ihr und Strout klar, daß ihre allmorgendlichen Schäferstündchen gezählt waren. Strout wollte schon bald sein Boot an Land bringen, und dann würde er keinen Grund mehr haben, sein Zuhause vor Tagesanbruch zu verlassen. Beiden war diese Aussicht eine Qual. In ihren Berichten an mich erklärte Mrs. English, sie habe gewußt, daß Strout das letztemal am Freitag, den 15. Januar zu ihr kommen können würde – an dem Morgen, an dem sie ihren Mann erschoß.
Nicht nur wirft diese Liebesaffäre ein zweifelhaftes Licht auf Mrs. Englishs Charakter, sie ist von entscheidender Bedeutung, da Staatsanwalt Pickering behauptet, nicht Notwehr, sondern Mrs. Englishs Beziehung zu Jack Strout sei das wahre Motiv für den Mord an ihrem Ehemann gewesen.
D. W. Pickering, zweiunddreißig Jahre alt, der nach einem Jurastudium an der Columbia Universität vor zwei Jahren nach Washington County hoch oben im Norden kam, um sich dort als Anwalt niederzulassen, bietet vor Gericht einen beeindruckenden Kontrast zu seinem wesentlich älteren Gegenspieler, Sam Cotton. Pickering, der sich mit seiner imposanten Größe, seiner Donnerstimme und seinem Hang zur Theatralik zumindest einen darstellerischen Vorteil bei den Verhandlungen verschafft hat, wirkt jetzt vor
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