Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
mit mehr oder weniger gutgezielten Schreckschüssen in die Flucht geschlagen hatten. Es wird gemunkelt, daß er möglicherweise dieses Jahr noch ins Richteramt berufen wird – da ist dieser Prozeß natürlich besonders wichtig für ihn.
Cotton hat zwei Vorteile auf seiner Seite. Einmal ist da die Tatsache, daß die Geschworenen sich nach Mrs. Englishs erstem Prozeß zwar nicht auf einen Spruch einigen konnten, daß aber die Mehrzahl von ihnen auf ihrer Seite standen. Eine der Geschworenen, eine Frau aus Petit Manan, schien für alle die zu sprechen, die für einen Freispruch gewesen waren, als sie am 23. Juni erklärte: »Man mußte dieser Frau einfach glauben.« Obwohl Mrs. English sich im Zeugenstand gelegentlich selbst im Weg stand, hat sie doch immer wieder auch Sympathie erweckt.
Der zweite Vorteil, den Cotton für sich buchen kann, ist die bereits erwähnte Neigung des Richters, Joseph Geary, Frauen gegenüber besondere Milde walten zu lassen. Zwar hat Geary bisher Mrs. English in keiner Weise begünstigt, doch in Shedds Gemischtwarenladen ist man sich allgemein darüber einig, daß Mary Amesbury bei Richter Geary »in guten Händen ist.«
Dennoch machen mehrere entscheidende Aspekte des Falls Cotton schwer zu schaffen, und der bedeutsamste unter ihnen betrifft das Fundament, auf dem die ganze Verteidigung aufbaut. Harrold English schlief, als Mrs. English ihn erschoß, sie kann daher nicht behaupten, ihr Leben sei in unmittelbarer Gefahr gewesen. Vielmehr hat sie ausgesagt, sie sei überzeugt gewesen, ihr Mann würde sie »früher oder später« an diesem Tag töten. Heikel ist auch die Tatsache, daß Mrs. English selbst bestätigt, ihr Mann habe sie zwar an diesem Morgen körperlich mißhandelt, jedoch mit keinem Wort gedroht, sie zu töten. Sie glaubte nur, er würde sie noch an diesem Tag mindestens schwer verletzen, wenn nicht gar töten.
Cotton hat aber noch ein weiteres Problem: Es ist ihm, wie schon erwähnt, bisher nicht gelungen, auch nur einen einzigen Zeugen beizubringen, der bestätigen kann, daß Harrold English seine Frau geschlagen hat. Immerhin jedoch konnte er einige Zeugen aus St. Hilaire präsentieren – Shedd, Julia Strout und Muriel Noyes, die Eigentümerin des Motels, in dem die Angeklagte die erste Nacht in Maine verbrachte –, die berichteten, daß Mrs. Englishs Gesicht bei ihrer Ankunft in St. Hilaire am 3. Dezember voller Blutergüsse und ihre Lippe aufgeplatzt und dick geschwollen war. Allerdings verloren diese Aussagen einiges an Wirkung, als später Beale und Mrs. Strout berichteten, Mrs. English habe ihnen selbst erzählt, diese Verletzungen seien die Folgen eines Autounfalls.
Schließlich scheint Cotton selbst einigermaßen verwirrt über die Liebesbeziehung zwischen seiner Mandantin und Strout. Bei der Verhandlung versuchte er ziemlich zaghaft, diese Klippe irgendwie zu umschiffen, aber das gelang ihm nicht. Cotton ist nicht bereit, sich über seine Verhandlungsstrategie zu äußern, aber aus der Verteidigung nahestehenden Kreisen wird angedeutet, daß er Mrs. English nur mit großem Widerstreben in den Zeugenstand rief, weil er den Schaden fürchtete, der ihr durch die Offenlegung ihrer Beziehung zu Strout erwachsen könnte. Erst als alle Bemühungen, Zeugen der Gewalt im Hause English zu finden, scheiterten, blieb ihm nichts andres übrig, als Mrs. English selbst sprechen zu lassen – und sie so Pickerings routiniertem Kreuzverhör auszusetzen.
Das tragische Ende Rebecca Strouts machte den Fall noch schwieriger für ihn. Es gab zu der Vermutung Anlaß, daß die Beziehung zwischen Mrs. English und Jack Strout nicht nur zur Ermordung Harrold Englishs, sondern auch unmittelbar zum Tod von Strouts Ehefrau führte.
Cotton weiß wahrscheinlich besser als jeder andere, wie kompliziert dieser Fall liegt. Bei einem kurzen telefonischen Interview sagte er lediglich, dies sei »ein äußerst ernster Fall«, es handle sich hier um einen für alle Frauen wichtigen Musterprozeß.
Der Verteidiger wird sich fragen, ob er nicht zuviel riskiert hat, als er Mrs. English riet, auf ihr Recht auf einen Geschworenenprozeß zu verzichten, und ob nicht ihr Auftreten als Zeugin ihm mehr geschadet als genützt hat. Ob sich Cottons gewagte Taktik nun auszahlen wird oder nicht – es gibt viele, die der Ansicht sind, daß es hier um größere Fragen geht, und auch wenn Richter Geary nächste Woche sein Urteil gesprochen hat, werden viele dieser Fragen bleiben:
Wie ist Gewalt
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