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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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in der Ehe zu definieren? Wo ist im Privatbereich des ehelichen Schlafzimmers, wo »Normalität« ein dehnbarer Begriff ist, die Grenze zwischen Sexspielen und Gewalt zu ziehen?
    Inwieweit hat Mrs. English tatsächlich die sadomasochistischen Neigungen ihres Mannes gefördert, die sie zugegebenermaßen billigend in Kauf genommen hat? War sie unschuldiges Opfer oder unwillentliche Komplizin?
    Wenn Mrs. English aus Notwehr gehandelt hat, wie sie behauptet, warum hat sie dann geschossen, nachdem Strout das Zimmer betreten hatte?
    Und schließlich: Hatte sie nicht vielleicht ein ganz anderes Motiv? Trieb wirklich der Wille zu überleben sie zu den Schüssen? Handelte sie in einem Zustand seelischer Labilität? Oder war die Liebesbeziehung zu einem anderen Mann das Tatmotiv?
    Cotton trat zu seinem Pontiac, aber bevor er einstieg, sah er noch einmal zum Haus hinauf. Seit Mrs. English am Morgen des 15. Januar abgeführt wurde, steht es leer. Einsam und verlassen steht es von wilden Strandrosen umgeben auf der kleinen Anhöhe. Auf einer Seite liegt ein verwittertes Hummerboot auf dem Sand. Das Wasser war ungewöhnlich glatt, über dem Dach mit den Gauben kreisten die Möwen. Cotton warf einen letzten Blick auf das Haus, als könnte es ihm die Antworten geben, die er suchte.
    Aber die kann ihm jetzt nur Mrs. English oder »Mary Amesbury« geben.
    Willis Beale hat es vielleicht am besten ausgedrückt: »Vor Mary Amesburys Ankunft war das hier ein friedliches kleines Dorf. Dann kam sie, und es war, als wäre ein Orkan durch den Ort gefegt. Ich sage nicht, daß sie absichtlich Ärger machen wollte, aber sie hat ihn gemacht.
    Als sie wieder verschwunden ist, hatten wir hier einen Mord und einen Selbstmord. Und drei Kinder hatten keine Mutter mehr.
    Die hat doch wohl einiges zu verantworten.«

Es war dunkel geworden, als ich ins Wohnheim zurückkehrte. Ich hatte mir ungefähr ausgerechnet, wie lange Caroline brauchen würde, um die Protokolle und Aufzeichnungen zu lesen. Jetzt würde ich mich ihr stellen müssen.
    Auf den Korridoren war es stiller als am Nachmittag. Ich meldete mich nicht über die Sprechanlage bei ihr an. Ich klopfte einfach an ihre Tür.
    »Ja, bitte«, sagte sie sofort.
    Sie stand am Fenster, in den Händen eine kleine Puppe aus Wolle und Flicken. Sie blickte mir direkt in die Augen, als ich eintrat. Obwohl ich auf den ersten Blick sehen konnte, daß sie sehr erschüttert war, wandte sie sich nicht ab. Die Papiere lagen in einem sauberen Stapel auf ihrem Schreibtisch.
    »Sie sind fertig«, sagte ich.
    Sie nickte.
    »Geht es Ihnen gut?« fragte ich.
    Sie nickte wieder.
    »Es war weniger der Artikel, der mich aus der Fassung gebracht hat«, erklärte sie und setzte die Puppe auf das Fensterbrett. »Den hatte ich mir schon so vorgestellt. Es war die Begegnung mit den Worten meiner Mutter. Genauso, in diesem Rhythmus, hat sie gesprochen. Wußten Sie das?«
    Ich hatte ihre Mutter nicht gut gekannt, um diese Frage beantworten zu können.
    »Haben Sie schon etwas gegessen?« fragte ich mit einer Geste zur Tür. »Wir könnten in ein Café oder ein Restaurant gehen.«
    Sie schüttelte rasch den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Ich bin nicht hungrig.«
    Ich trat weiter ins Zimmer. Mir war unbehaglich in Mantel und Schal. Obwohl ich nicht lange bleiben wollte – ich wollte dieses Gespräch nur so schnell wie möglich hinter mich bringen –, setzte ich mich, weil ich es irgendwie für angebracht hielt.
    Sie blieb am Fenster stehen, mit dem Rücken an den Sims gelehnt.
    »Ich verstehe eigentlich nicht, warum sie Ihnen das alles geschrieben hat«, sagte sie. »Warum hat sie Ihnen das alles erzählt? Warum hat sie ihrer Aussage bei Gericht widersprochen?«
    Ich setzte mich etwas bequemer und nahm meinen Schal ab. Es war heiß im Zimmer.
    »Die Frage habe ich mir auch oft gestellt«, antwortete ich. »Ich weiß nicht, welche Gründe Ihre Mutter dafür hatte, mir das Material zu schicken. Ich glaube, anfangs hat sie versucht, ein Gespräch im Sinne eines Interviews mit mir zu führen, aber unter Bedingungen, die sie nicht überforderten. Später wurde das Gespräch selbst eine Art Katharsis für sie und hat ihr vielleicht eine gewisse Erleichterung gebracht. Sie schrieb wohl deshalb mit solcher Ausführlichkeit, beinahe als schriebe sie einen Lebensbericht. Ich glaube, sie wollte ein für allemal ihre Geschichte erzählen und tat das für sich selbst. Und eben weil sie es für sich selbst tat, mußte es die Wahrheit

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