Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
beschlagnahmen. Aber das hatte er nicht getan. Wozu auch, nachdem Geary Maureen English des vorsätzlichen Mordes schuldig gesprochen hatte?
Nach zwölf Jahren Haft hatte der Gouverneur von Maine Maureen English Straferlaß gewährt. Ich wußte, daß verschiedene feministische Gruppen und mit ihnen Julia Strout sich für die Umwandlung der Strafe eingesetzt hatten. Ich hatte sogar daran gedacht, mich ihnen anzuschließen, tat es aber dann doch nicht.
Als ich das junge Mädchen mir gegenüber ansah, bemerkte ich, daß sie geweint hatte. Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und schneuzte sich. Erst jetzt fiel mir auf, daß sie auch vorher schon geweint hatte.
»Sie war doch nicht mitschuldig, nicht wahr?« fragte Caroline nach einer Weile leise.
»Nein«, antwortete ich so wahrheitsgetreu, wie mir das möglich war. »Aber das wußte ich damals nicht. Ihre Mutter hat sich in ihren Aufzeichnungen oft selbst als Mitschuldige oder Komplizin bezeichnet, aber 1971 wußte ich noch nicht, daß die meisten geschlagenen und mißhandelten Frauen sich so sehen. Ich wußte damals nicht, daß dieses Gefühl der Schuld und der Mittäterschaft Teil des zerstörerischen Prozesses ist, dem das Opfer ausgesetzt ist.«
Ich hielt inne.
»Woran ist Ihre Mutter gestorben?« fragte ich, das Thema wechselnd. »Es stand nicht in der Anzeige.«
Caroline antwortete mir nicht gleich. Dann ging sie zum Bett und setzte sich.
»An Lungenentzündung«, antwortete sie schließlich. »Sie hatte schon im Gefängnis mehrere Lungenentzündungen. Sie war anfällig für die Krankheit. Jack und ich waren immer sehr vorsichtig …« Sie sprach nicht weiter.
Ihr Gesicht verzog sich, als wollte sie wieder zu weinen anfangen, aber dann faßte sie sich wieder.
»Das tut mir leid«, sagte ich.
Danach war es lange still.
Ich räusperte mich. »Es hat mich gefreut, als ich in der Anzeige sah, daß sie Jack schließlich doch noch geheiratet hat und vielleicht die letzten Jahre noch glücklich war.«
Caroline nickte teilnahmslos. »Ja, sie waren glücklich«, sagte sie.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich frage, aber ich bin einfach neugierig, es würde mich interessieren, was aus einigen der anderen Menschen geworden ist.«
Sie hob den Kopf, ihr Blick war ein wenig verschwommen. »Wen meinen Sie?« fragte sie.
»Nun ja«, sagte ich stockend, »Julia, zum Beispiel.«
Sie antwortete mir, aber sie schien mit ihren Gedanken woanders zu sein.
»Ich habe bis zu meinem zwölften Lebensjahr bei Julia gelebt«, sagte sie. »Meine Großmutter wollte das Sorgerecht haben, aber meine Mutter wollte mich in Maine in ihrer Nähe haben. Und als meine Mutter dann entlassen wurde, bin ich mit ihr und Jack zusammen in sein Haus gezogen. Das war … das war anfangs sehr schwierig für mich. Ich habe Julia geliebt. Sie war lange Zeit die Mutter für mich … Emily war da schon fort. Sie ist Ingenieurin in Portland.«
»Und Sie?« fragte ich. »Wollen Sie auch schreiben wie Ihre Eltern?«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Nein«, antwortete sie. »Nein, ich glaube nicht. Im Augenblick habe ich vor, Architektur zu studieren.«
»Jack ist bei der Fischerei geblieben?« fragte ich.
»O ja«, antwortete sie, als hätte ich eine dumme Frage gestellt.
»Aha. Und Willis?«
»Ich bin erzogen worden, Sie zu hassen«, sagte sie unvermittelt. Ihr Blick war zornig, beinahe drohend, aber mehr noch als Zorn lag Verwirrung in ihm.
Ich hatte so etwas erwartet, dennoch stieg mir die Hitze ins Gesicht. Ich machte eine kleine hilflose Handbewegung. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich darauf hatte reagieren wollen.
»Das heißt, ich bin nicht gerade dazu erzogen worden«, korrigierte sie sich, »aber es verstand sich von selbst.«
Ich nickte. Sagen konnte ich dazu nichts.
»Mich hat das alles immer bedrückt«, sagte ich. »Es bedrückt mich heute noch. Deshalb bin ich hergekommen.«
Sie wandte sich von mir ab.
»Warum tun Sie so was?« fragte sie.
Ich überlegte einen Moment. Hatte ich diese Frage nicht schon beantwortet?
Sie sah mein Unverständnis.
»Nein, ich meine«, erläuterte sie, »warum schreiben Sie über Gewalt und Verbrechen?«
Ich sah zu meinen Händen hinunter und drehte an dem goldnen Armband an meinem Handgelenk. Eben diese Frage hatte ich mir im Lauf der Jahre oft selbst gestellt – manchmal erschrocken, manchmal eher selbstgefällig. Was faszinierte mich so an Mord, Vergewaltigung und Selbstmord? Mir schien das eine Frage zu sein,
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