Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
sein.«
»Die Wahrheit? Aber Sie haben es nicht als die Wahrheit genommen! Was Sie getan haben, ist eine Gemeinheit!« schrie sie mich an. Mit einer heftigen Bewegung riß sie das Gummiband von ihrem Pferdeschwanz. »Eine Gemeinheit! Wie konnten Sie ihr das nur antun?«
Ich drehte den Kopf und starrte an die Wand. O doch, hätte ich gern gesagt, ich habe gewußt, daß es die Wahrheit ist. Trotz allem, was ich getan habe.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich weiß, das ist nicht viel, aber es tut mir wirklich leid.«
Sie schüttelte den Kopf, wie um eine Entschuldigung abzuwehren. Das Haar flog ihr ums Gesicht.
»Warum?« fragte sie, mit beiden Händen gestikulierend. »Warum haben Sie es getan?«
Ich holte tief Atem. Die Antwort war nicht einfach.
»Das ist eine schwierige Frage«, sagte ich und machte eine Pause, um zu überlegen. »Der ehrliche Grund war wahrscheinlich Ehrgeiz«, sagte ich dann. »Ich weiß, das ist unverzeihlich, aber es ist die Wahrheit. Ich war scharf auf eine Titelgeschichte und einen Vertrag für ein Buch. Ich wußte, ich würde den Vertrag für ein Buch nur bekommen, wenn ich in dem Artikel keine Lösung präsentierte, sondern eine Reihe von Fragen offenließ – aus der Geschichte ein großes Geheimnis machte. Und genauso klar war mir, daß ich durchblicken lassen mußte, ich hätte zusätzliches Material aus den Aufzeichnungen Ihrer Mutter – Material, das ich erst zu einem späteren Zeitpunkt enthüllen könne.«
Sie sah zu ihren Füßen hinunter. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt.
»Aber es gab noch andere Gründe, die Sie auch wissen sollten. Sie sollen keine Entschuldigung sein. Ich finde nur, Sie sollten sie wissen.«
Da sie nichts sagte, fuhr ich zu sprechen fort.
»Es stimmt, daß meine Darstellung nicht der Geschichte entsprach, die Ihre Mutter in Ihren Aufzeichnungen erzählt hatte. Aber ich glaube nicht, daß ich es beim Schreiben des Artikels absichtlich darauf anlegte, ihr zu schaden. Mir schien die Wahrheit der Geschichte damals in ihrer Komplexität zu liegen – den unterschiedlichen Meinungen und Blickwinkeln.«
Ich fand es jetzt unerträglich heiß im Zimmer und zog meinen Mantel aus.
»Und da wäre noch etwas«, fügte ich hinzu. »Ich meine den Prozeß des Auswertens des Materials. Es ist schwer zu erklären, aber wenn man einen Artikel schreibt, muß man ständig wählen. Man muß das, was einem jemand erzählt hat, genau durchsehen, sich entscheiden, welche Zitate man verwendet und welche nicht, vielleicht sogar Gesagtes in eine andere Fassung bringen, um die Bedeutung klarer herauszuarbeiten. Wenn man das tut, kann man fast nicht umhin, die Geschichte auf diese oder jene Weise zu verändern …«
Draußen im Korridor konnte ich Reden und Lachen hören.
»Und es kommt noch etwas dazu«, fuhr ich fort. »Der Artikel war ein Produkt seiner Zeit. Er könnte heute nicht mehr geschrieben werden. Wir wußten damals kaum etwas über häusliche Gewalt. Besser gesagt, wir wußten überhaupt nichts über häusliche Gewalt. Geschlagene Frauen gab es 1971 nicht. Jedenfalls nicht in unserem Bewußtsein.«
Ichwar versucht hinzuzufügen, daß die Wahrheit manchmal durch die Zeit bedingt ist, in der sie gilt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß das für das junge Mädchen ein Trost sein würde.
»Sie hat zwölf Jahre da drinnen verbracht!« rief Caroline aufgebracht. »Das war meine Kindheit!«
Ich neigte den Kopf nach hinten und starrte zur Decke hinauf.
»Ich weiß«, sagte ich.
Mein Artikel hat weit mehr Beachtung gefunden, als irgend jemand vorausgesehen hatte. Er war von den Agenturen übernommen, im Fernsehen zitiert worden. Richter Geary hatte bei der Urteilsverkündung gesagt, jüngste Berichte in den Medien hätten ihn nicht beeinflußt. Aber ich hatte mir da so meine Gedanken gemacht. Von Richtern wird während eines schwebenden Verfahrens keine Klausur verlangt, weil man der Ansicht ist, daß sie professionell genug sind, den Medienberichten keine Beachtung zu schenken. Aber ich glaubte nicht daran, daß er unparteiisch geblieben war, als ich hörte, daß er Maureen English des vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden und sie zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe mit möglicher Bewährung nach zwanzig Jahren verurteilt hatte. Er hatte ihr die Höchststrafe gegeben.
Heute hätte sie allenfalls fünf Jahre wegen Totschlags bekommen.
Bei Erscheinen des Artikels hatte ich gefürchtet, Pickering würde meine Unterlagen
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