Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Machias mitarbeitete, aber er ist kurz vor Thanksgiving wieder abgereist. Für Mary Amesbury war das ein glücklicher Zufall, denn ich hatte deshalb Wasser und Heizung noch nicht abgestellt.
Sie kam zu mir. Direkt an meine Tür.
Sie hatte einen grauen Tweedmantel an und trug einen grauen Schal dazu. Später, als wir draußen beim Cottage waren und sie den Mantel ausgezogen hat, hab ich gesehen, daß sie darunter Blue Jeans und einen Pulli anhatte. An den Füßen hatte sie, glaube ich, schwarze Stiefel. Sie war sehr dünn.
Ich nehme an, Sie haben sie kennengelernt.
Sie hat mich an ein Rassepferd erinnert. Sie hatte, wie meine Mutter sagen würde, ein aristokratisches Kinn.
Ich habe nicht mehr getan, als jeder anständige Mensch getan hätte. Es gibt hier im Ort Leute, um die man sich kümmern muß, denen man helfen muß, wenn man kann. Ich würde sagen, es war schon etwas ungewöhnlich für mich und Everett, uns wegen einer Fremden Gedanken zu machen, aber man brauchte sie nur zu sehen, und es war klar, daß man ihr helfen mußte. Außerdem war ja das Kind auch noch da.
Was danach passiert ist? Wir haben uns in ihren Wagen gesetzt und sind zusammen zum Cottage rausgefahren.
Eines möchte ich aber jetzt gern noch sagen. Es ist wichtig, und ich finde, Sie sollten es wissen.
Diese ganze Geschichte ist entsetzlich und für alle Beteiligten tragisch. Aber das eine möchte ich Ihnen doch sagen: Ich bin fest überzeugt, daß die sechs Wochen, die Mary Amesbury in St. Hilaire verbrachte, die wichtigste Zeit ihres Lebens war.
Und vielleicht die glücklichste.
Mary Amesbury
Am Morgen zog ich die Vorhänge auf. Der Tag war blendend hell – gleißendes Licht und sonnenfunkelnder Schnee. Caroline lag auf dem Bett und schaute zu mir herauf. In ihrem lächelnd geöffneten Mündchen blitzten zwei kleine Zähne. Ich nahm sie hoch und begann, mit ihr auf dem Arm hin und her zu gehen. Sie liebte das – vielleicht mochte sie den Ausblick von der Höhe meiner Schulter oder einfach die rhythmische Bewegung –, und ich fühlte mich heil und in Frieden, wenn ich sie im Arm hielt, als wäre mir ein verlorengegangenes Stück von mir vorübergehend wiedergegeben.
Während ich umherging, versuchte ich, mir über die nächste Zukunft klar zu werden. Das Zimmer gefiel mir nicht, aber ich wußte, daß ich es nicht aufgeben konnte, solange ich nicht etwas Passenderes gefunden hatte. Ich dachte daran, mein Glück in Machias zu versuchen. Der Ort war größer, da gab es wahrscheinlich mehr Möglichkeiten, eine Unterkunft für länger zu finden, ein möbliertes Zimmer vielleicht oder sogar eine kleine Wohnung. Ich brauchte eine Zeitung und Lebensmittel, es hieß also einkaufen, wieder einen Laden betreten – mir graute davor.
Ich beschloß, das Zimmer für eine weitere Nacht zu mieten. Da hätte Caroline wenigstens einen festen Platz, wo sie tagsüber schlafen konnte, wenn ich nicht gleich eine Unterkunft fand.
Ich zog erst das Kind an, dann mich und ging, mein Gesicht hinter Schal und Brille versteckt, ins Büro hinüber. Es war niemand da, aber als ich läutete, kam die Dicke vom vergangenen Abend. Sie sah mich an, als hätte sie mich nie zuvor gesehen. Ich fragte, ob ich das Zimmer eine weitere Nacht haben könnte, und im selben Moment sah ich, daß sie alles wußte.
Es hat einmal eine Zeit gegeben, da wollte ich es in die Welt hinausschreien und war nicht fähig gewesen, darüber zu sprechen. Jetzt aber, da die Wahrheit mir aus dem Gesicht sprach, wollte ich mich nur verstecken.
Ich hob den Kopf, sah der Wirtin direkt ins Gesicht und fragte, ob sie eine Wohnung oder ein Häuschen wisse, das ich für einige Zeit mieten könne.
Ein Geruch von kaltem Zigarettenrauch, der die Frau umgab, breitete sich im Zimmer aus. Sie musterte scharf mein Gesicht, das wenige, was davon sichtbar war, als suchte sie Bestätigung für ihren Verdacht. Dann zog sie tief an ihrer Zigarette und machte mit der Hand, die die Zigarette hielt, eine Bewegung in Richtung zum Dorf.
»In St. Hilaire ist eine Frau, die im Sommer Ferienhäuser vermietet«, sagte sie. »Ich glaube, eins oder zwei davon sind winterfest.«
»Wie kann ich sie erreichen?« fragte ich.
Die Dicke zögerte, dann griff sie zum Telefon. Sie hielt den Blick auf mich gerichtet und sprach mit mir, während sie wählte. »Sie heißt Julia Strout. Sie vermietet selten im Winter. Hier kommt ja nie ein Mensch her. Aber sie hat ein Haus draußen auf dem Kap und ein zweites am südlichen
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