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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mußte, wenn ich mir nicht die Dinge nahm, die ihr versagt geblieben waren.
    Wenn meine Mutter in ihrer Firma in Chicago war und ich nicht in der Schule saß, wanderte ich oft allein oder mit meinen Freunden das Bahngleis entlang. Wir folgten den Gleisen zu Nachbarorten (die über den Bahndamm leichter zu erreichen waren als über die Straße) und sprangen flugs von den Schienen, sobald wir einen Zug kommen hörten. Wir fanden das »abenteuerlich«. Es war friedlich auf den Gleisen, und man bekam ein Gefühl der Orientiertheit, aber das wahrhaft Verführerische an diesem Zeitvertreib war die Illusion von Freiheit. Vor uns dehnten sich die endlosen Gleise, nirgends ein Hindernis in Sicht, so daß man das Gefühl hatte, man könnte bis in alle Ewigkeit immer geradeaus weitergehen. Selbst heute noch denke ich, wenn ich das rhythmische Rattern eines vorüberfahrenden Zugs höre, an meine Mutter und an die Verheißung einer Reise und an jenen fernen ersehnten Punkt, wo die Schienen zusammenzulaufen scheinen.

Muriel Noyes
    Jetzt sagen Sie mir erst mal, worum es in Ihrem Bericht überhaupt geht.
    Für einen Artikel, in dem nur an Mary Amesbury rumgekrittelt werden soll, geb ich mich nicht her. Sie können das Ding also gleich wieder wegstecken, wenn Sie vorhaben, sie fertigzumachen. Mary Amesbury ist unschuldig. Verlassen Sie sich drauf, ich weiß es. Woher ich es weiß? Weil das haargenau meine eigene Geschichte ist. Und jede Frau, die so was durchgemacht hat, weiß, wie das läuft.
    Ich hatte einen Ehemann, der mich geschlagen hat. Dieser Mistkerl hat mein Leben ruiniert. Verdammt noch mal, ja, er hat mir alles kaputtgemacht. Er hat mir die besten Jahre meines Lebens genommen. Und die kriegt man nie zurück. Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich hatte kleine Kinder und konnte sie nicht einmal lieben. Ich meine, natürlich habe ich sie geliebt, aber nichts, nichts konnte ich je genießen, weil ich dauernd Angst haben mußte. Ich hatte Todesangst, wenn er nur zur Tür hereinkam, Angst um die Kinder und Angst um mich. Einmal hat er meinen kleinen Sohn geschlagen, als der noch im Hochstuhl saß, er war noch nicht mal sieben Monate alt. Können Sie sich das vorstellen? Sieben Monate! Ich mußte den Kleinen zum Arzt bringen. Ich mußte lügen. Jeden gottverdammten Tag meines Lebens hab ich lügen müssen, weil ich mich so geschämt habe und solche Angst hatte.
    Aber eines kann ich Ihnen sagen: Heute habe ich vor nichts und niemandem mehr Angst.
    Sie sehen also, ich kenn mich da aus. Da gibt’s nichts, was ich nicht weiß.
    Eines muß ich allerdings sagen, bei Mary Amesbury habe ich’s erst am nächsten Morgen gemerkt. Wenn Sie mich mit meiner Illustrierten erwischen, vergessen Sie’s! Wissen Sie, als sie reinkam, hab ich eigentlich nicht sie angeschaut, sondern mehr das Kind, drum ist mir nichts aufgefallen.
    Aber als sie am nächsten Morgen mit dem Schal und der dunklen Brille ins Büro kam, da hab ich sofort Bescheid gewußt, und sie hat’s gemerkt. Sie hätten sehen sollen, wie sie mich angeschaut hat, ich schwör’s, ich hab gedacht, sie würde auf der Stelle ohnmächtig werden. Als sie sich dann wieder im Griff hatte, hat sie mich gefragt, ob ich was wüßte, wo sie eine Weile bleiben kann, ein Ferienhaus oder so was. Ich hab eine Weile nachgedacht und ihr dann gesagt, daß Julia Strout da vielleicht was hätte. Julia hat ein paar Cottages, die sie im Sommer vermietet.
    Ich hab Julia gleich selbst angerufen, wahrscheinlich weil ich mir vorstellen konnte, was sie durchgemacht hatte, und dann mit dem Kind und so. Hier oben kümmern wir uns im allgemeinen nicht weiter um Fremde, aber das war was anderes, verstehen Sie.
    Ich hab sie dauernd anschauen müssen. Sie hat sich die größte Mühe gegeben, es zu verstecken, aber man hat’s trotzdem gesehen. Sie hätten Ihren Augen nicht getraut, wenn sie’s gesehen hätten. So was ist ein Alptraum, ein echter Alptraum. Fremden Leuten gegenüberzutreten, wenn einem die ganze Lebensgeschichte im Gesicht geschrieben steht.
    Sie sind doch Reporterin, richtig? Na, Ihnen sagt über so eine Geschichte bestimmt keiner die Wahrheit, drum werd ich Ihnen jetzt mal was erzählen. Er hat mir die beiden oberen Schneidezähne ausgeschlagen. Er hat mich bewußtlos geprügelt. Er hat mir den Arm und das Schienbein gebrochen. Er hat seine Zigaretten auf meinem Körper ausgedrückt. Fünf Jahre lang hatte ich nicht ein einziges Mal intime Beziehungen, wie man so sagt, und es war mir gerade

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