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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mich hörte, daß das Bild verwischt ist, und ich mir heute nicht sicher bin, was ich gesehen habe. Sie sprang mit rotem Kopf auf, als wäre ich die Mutter. Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen, stellte die Frage, die mich ins Zimmer geführt hatte. Aber es war ein fürchterlicher Moment, und selbst heute noch winde ich mich innerlich vor Verlegenheit, wenn ich daran denke. Ich fand es nicht fürchterlich, daß Philip sie geküßt hatte – ich war froh, daß sie nach all den Jahren jemanden gefunden hatte, der sie liebte. Ich fand mich selbst fürchterlich, meine hemmende Anwesenheit.
    Doch auch Philip verließ meine Mutter nach einiger Zeit. Monatelang glaubte ich, Philip hätte meine Mutter meinetwegen im Stich gelassen, weil er keine Lust hatte, eine Frau zu lieben, die ein Kind »am Hals« hatte, wie man damals sagte. Wenn später andere Männer zu uns kamen – und allzu viele waren es nach Philip nicht –, ging ich stets in mein Zimmer und kam nicht mehr heraus.
    Meine Mutter kam aus einer streng katholischen irischen Familie und war als eines von sieben Kindern in einer ständig überfüllten Wohnung groß geworden. Sie war fromm und besuchte jeden Sonntag ihres Lebens die Messe, und ich bin überzeugt, meine außereheliche Geburt war in ihren Augen der schlimmste moralische Fehltritt ihres Lebens. Ich war von klein auf nicht dazu zu bewegen, die Kirche mit der gleichen Vorbehaltlosigkeit anzuerkennen wie sie, und ich weiß, daß Widerstand von mir ihr eine Quelle des Zorns war. Wenn es zwischen uns Auseinandersetzungen gab – und ich erinnere mich nur an wenige –, dann darüber, weil ich nicht regelmäßig zur Kirche ging. Später, als ich in New York arbeitete und schon tiefunglücklich war, kam ich jeden Morgen auf dem Weg in die Redaktion an einer katholischen Kirche aus altersdunklem Backstein namens St. Augustin vorbei, und manchmal fühlte ich mich fast überwältigt von dem Verlangen, hineinzugehen und niederzuknien. Ich habe es jedoch nie getan. Die Überzeugung, daß ich von einer Kirche, die ich zurückgewiesen hatte, keinen Trost verdiente, hielt mich davon ab, und im übrigen war ich meist ohnehin zu spät dran.
    Wir bekamen oft Besuch. Meine Mutter hatte viele Verwandte, die fast alle noch in der Stadt lebten. Für sie war die Fahrt zu unserem kleinen, weit außerhalb gelegenen Vorstadthaus willkommenes Ziel für einen Sonntagsausflug. Meine Großeltern, Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen pflegten unten an der Straße mit dem Zug anzukommen, und dann zog die ganze Gesellschaft lärmend den Hügel hinauf zu unserem Bungalow, wo meine Mutter mit einem Essen wartete. Sie wußte, daß die gesamte Verwandtschaft nichts davon hielt, daß sie ihre Tochter allein großzog, und noch weniger von ihrem Entschluß, außerhalb der Stadt zu leben und sich und ihr Kind mit ihrer Arbeit als Sekretärin durchzubringen – als Privatsekretärin, wie sie stolz zu sagen pflegte –, aber sie lud sie dennoch jede zweite Woche getreulich ein und redete ihnen noch gut zu, wenn sie Umstände machten. Ich hatte ja keine Geschwister, und sie wußte, daß ich auch nie welche haben würde. Deshalb wollte sie mir das Gefühl vermitteln, daß ich in eine größere Gemeinschaft eingebunden war. Je lauter und geselliger es in unserem Haus zuging, desto glücklicher schien sie zu sein.
    Sie drängte mich auch immer, meine Freunde mit nach Hause zu bringen, und stets warteten dann im Kühlschrank oder auf dem Küchentisch irgendwelche Leckerbissen auf uns, die sie vorbereitet hatte, oder sie lud meine Freunde ein, mit uns zu essen und bei uns zu übernachten. Sie sprühte vor Lebendigkeit, wenn meine Freunde kamen, beinahe als versuchte sie, den Eindruck zu erwecken, es lebten mehr Menschen im Haus als es tatsächlich der Fall war und wir wären genau wie alle anderen Familien in der Straße. Ich hatte Freundinnen, später Freunde, und meine Teenagerjahre sind mir als eine ständige atemlose Jagd in Erinnerung, bei der alle meine Energien auf die Schule konzentriert waren und auf mein Bemühen, ein Höchstmaß an Beliebtheit zu erringen. Aber meine geheimen Phantasien, so verschwommen sie auch sein mochten, richteten sich auf eine ferne Zeit, irgendwann nach der High-School, wo ich nicht mehr zu Hause leben würde. Ich liebte meine Mutter, und der Gedanke, sie allein zurückzulassen, machte mir zu schaffen, aber ich begriff auch, daß weder sie noch ich glücklich werden konnten, wenn ich nicht das tat, was ich tun

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