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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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solches Detail hätte mir gleich gefallen, aber meine Erinnerung an diese ersten Minuten ist verschwommen, eine undeutliche Aufeinanderfolge von Ecken, Fenstern, Schatten. Ich folgte wie eine Blinde Julia Strout. In klarer Sprache erläuterte sie mir Gegenstände und Räume.
    Dann kehrten wir zur Küche zurück. In ihr stand ein Holztisch, über dem eine abgewetzte grün-weiß karierte Wachstuchdecke lag, und um ihn herum standen vier Stühle, die nicht zueinander paßten, einer davon dunkelrot gestrichen. Julia machte sich Sorgen wegen der Heizung – es war eiskalt gewesen im Haus, als wir eintraten – und drehte zuerst einmal den Thermostat hinauf, um dann in den Keller hinunterzusteigen und nach dem Ofen zu sehen. Sie zeigte mir, wo der Boiler für das heiße Wasser war, und schaltete ihn ein. Den Weg zum Haus hinunter, sagte sie, würde sie später am Tag von einem der Männer räumen lassen.
    Ich setzte mich. Caroline, der ich Schneeanzug und Mütze nicht ausgezogen hatte, begann unruhig zu werden. Ich machte meinen Mantel auf und stillte sie. Ich saß seitlich auf einem Küchenstuhl, einen Arm auf den Tisch gestützt. Durch das Fenster vor mir sah ich, wie eine Möwe mit einer Muschel im Schnabel schnurgerade in die Luft stieg, die Muschel dann auf die Felsen hinunterfallen ließ, um die Schale zu sprengen.
    Julia prüfte im Badezimmer die Wasserhähne und knipste alle Lichter an, um festzustellen, ob sie funktionierten. Sie war gerade dabei, eine Lampe über dem Herd zu untersuchen, als ich sie fragte, ob ihr Mann auch Fischer sei. Ich fragte nur aus Höflichkeit. Ich sah, daß sie einen Ehering trug, und warf einen Blick auf den hellen Streifen an meinem Finger, wo eigentlich mein Ehering hätte sitzen müssen.
    »Er ist tot.« Sie drehte sich zu mir herum. Im Gegensatz zu den meisten großgewachsenen Frauen stand sie kerzengerade und besaß eine gewisse Anmut.
    »Es war bei einer Sturmböe«, erklärte sie. »Er hat sich mit dem Fuß in dem Tau verfangen, an dem seine Körbe hingen, und als er die Körbe über Bord warf, ist er mitgezogen worden. Das Wasser war so kalt, daß er sofort einen Herzschlag bekam, bevor er noch ertrinken konnte. Das ist fast immer so, die Kälte erwischt einen bevor man ertrinken kann«, sagte sie ruhig.
    Ich sagte, das täte mir leid.
    »Ach, es ist Jahre her«, erwiderte sie mit einer kurzen Handbewegung.
    Ich dachte, sie würde noch etwas sagen, aber sie ging ohne ein weiteres Wort zur Arbeitsplatte und suchte in einer Schublade nach einer Glühbirne.
    Ich wandte den Blick wieder nach draußen. Jetzt waren schon mehrere Möwen da. Leicht wie Federn in einem Aufwind schossen sie mit ihrer Beute zum Himmel hinauf. In der Stille der Küche hörte ich, was ich vorher, von der Hausbesichtigung abgelenkt, nicht wahrgenommen hatte – die natürlichen Alltagsgeräusche draußen vor dem Haus: das Kreischen der Möwen, das Plätschern der Wellen auf den Kieseln, das leise Klirren der Steine in der Bewegung, das Brummen eines Motors auf dem Wasser, das Klirren einer Fensterscheibe in einer Böe. Die Melodie dieser natürlichen Geräusche rief plötzliche Schläfrigkeit hervor.
    Julia Strout beendete ihre Inspektion des Hauses und kam an den Tisch, an dem ich saß. Sie hatte die Hände in die Taschen ihres Parkas geschoben.
    Ich trug immer noch den Schal und die Sonnenbrille. Wie in stillschweigendem Einverständnis hatte ich sie nicht abgenommen, und sie hatte keine Bemerkung darüber gemacht. Aber Schal und Brille waren jetzt lästig und unnötig. Mit der freien Hand öffnete ich den Schal und nahm die Brille ab.
    »Ich hatte einen Autounfall«, sagte ich.
    »Ja, das sieht man«, erwiderte sie. »Muß ein schlimmer Unfall gewesen sein.«
    »Ja.«
    »Müßte die Lippe nicht genäht werden?«
    »Nein«, sagte ich. »Der Arzt meinte, das wird von selbst wieder.« Die Lüge kam mir leicht über die Lippen, aber ich konnte sie nicht ansehen, als ich sie aussprach.
    Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, schien mich zu mustern, sich ein Urteil über mich zu bilden.
    »Woher kommen Sie?« fragte sie.
    »Aus Syracuse.«
    »Ich war mit einem Mädchen aus Syracuse auf dem College«, sagte sie bedächtig. »Aber Sie werden die Familie wahrscheinlich nicht kennen.«
    »Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete ich, ihrem Blick ausweichend.
    »Sie sind von weit hergekommen.«
    »Ja, so kommt’s mir auch vor.«
    »In Machias gibt es eine Klinik …« begann sie.
    Ich warf ihr einen scharfen

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