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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mein’s noch nicht aus der Garage geholt.«
    Sie setzte sich neben mich nach vorn, groß und kräftig, imposanter noch, als sie mir am Vortag im Laden erschienen war. Sie nahm den ganzen Raum im Wagen neben mir ein. Ich warf ihr einen hastigen Blick zu, aber sie erwiderte ihn nicht. Sie hatte wohl schon gesehen, was es zu sehen gab, und war zu diskret, um mich anzustarren.
    »Das Haus liegt gleich an der Küstenstraße, ein Stück nördlich vom Dorf«, bemerkte sie. »Tut mir leid, daß Sie jetzt noch mal zurückfahren müssen, aber allein hätten Sie das Haus wahrscheinlich nicht gefunden. Man erkennt die Zufahrt an zwei Kiefern, aber ich bezweifle, daß ich Ihnen die hätte beschreiben können.«
    Auch Julia Strout sprach den einheimischen Dialekt, aber ihre Sprache war kultivierter als die der anderen Leute, denen ich bisher begegnet war.
    Die Straße war praktisch unbesiedelt und führte dicht an der gezackten Küste entlang. Hier hatte man freien Blick auf das Wasser – eine weite, kalte, mit Inseln gesprenkelte blaue Fläche, die sich zum Atlantik hinausdehnte. Es blies ein starker Wind, und die Wellen schäumten.
    »Hier sind wir schon«, sagte sie. »Jetzt rechts.«
    Wir bogen in eine steinige Straße ein, bedeckt von Eis und Schnee und zu beiden Seiten von hohen Hecken begrenzt, Himbeersträuchern, wie sie sagte. Rutschend und ruckelnd schlingerten wir die schmale Straße hinunter, bis sie sich vor uns zu unerwarteter Weite öffnete.
    Eine nimmermüde Brandung klatschte gegen die von dunklem Seetang begrenzte Uferlinie. Vor uns lag eine Landzunge mit glattem Sandstrand auf der einen Seite und Kiesel auf der anderen, dazwischen ein breiter Streifen dürren Grases, auf dem eine dünne Schneeschicht lag. Auf dem Gras lag, zweifellos von einem Sturm an Land geschleudert, ein ramponiertes Hummerboot, dessen verwitterter blau-weißer Anstrich sich vor der Trostlosigkeit des Strandes beinahe zu malerisch ausnahm. Ein Stück weiter die Landzunge hinunter stand ein Holzschindelschuppen, nicht größer als ein Zimmer. Und vor dem Kap lagen in einem Kanal vier Hummerboote vertäut – eines von ihnen grün-weiß gestrichen.
    »Ein paar Männer haben ihre Boote immer hier liegen und nicht vor dem Dorf«, sagte sie, »aber die werden Sie nicht stören. Die holen sowieso in zwei Wochen ihre Boote rein, außer vielleicht Jack Strout, mein Vetter, der holt sein’s immer erst Mitte Januar aus dem Wasser. Und wenn sie wirklich rausfahren, dann immer vor Tagesanbruch. Sie werden sie den ganzen Tag nicht zu sehen bekommen.«
    Der Schuppen, ein »Fischhaus«, wie sie sagte, diente den Hummerfischern als Arbeitsplatz, wenn sie nicht hinausfuhren. Sie brachten dort in den Wintermonaten ihre Ausrüstung in Ordnung.
    Eine waldbestandene Insel, auf der es keine Häuser gab, hob sich dunkel hinter den Booten ab. Jenseits von ihr dehnte sich eine ganze Kette ähnlicher Inseln, die mit zunehmender Entfernung in einem immer helleren Grün schimmerten, bis zum Horizont.
    »Das Haus ist hinter Ihnen rechts«, sagte sie.
    Ich wendete auf einem kleinen Flecken feuchten Sands und bekam auf der Kieseinfahrt, die zum Haus führte, griffigeren Boden unter die Räder. Das Haus stand auf einer Anhöhe und hatte von drei Seiten den Blick aufs Meer, und als ich es sah, dachte ich: ja.
    Es war ein bescheidenes Haus aus weißen Holzschindeln, den Fischerhäusern von Cape Cod nicht unähnlich, auch wenn ihm deren klare Konturen fehlten. Auf einer Seite hatte es eine durch Fliegengitter geschützte Veranda und in der oberen Etage ein großes Dachfenster. Sonst war es schmucklos. Die Holzschindeln reichten bis zum Boden hinunter und waren nicht hinter Büschen oder Sträuchern versteckt. Adrett, dachte man unwillkürlich, wenn man das Haus betrachtete. Aus einer Wildnis von Strandrosen, die jetzt von der Last des Schnees niedergedrückt und hier und dort geknickt waren, hatte man ein quadratisches Stück Grün herausgeschnitten, das das Haus umgab. Es sah nackt aus, sonnendurchtränkt, frisch geschrubbt.
    »Der Schlüssel hängt am Türrahmen«, sagte sie beim Aussteigen.
    Ich nahm Caroline vom Rücksitz und folgte Julia Strout den kleinen Hang hinauf zum Haus. Sie schob den Schlüssel ins Schloß.
    Das Haus hatte nur wenige Zimmer – ein Wohnzimmer, die Küche, ein Schlafzimmer unten, ein größeres oben, die Veranda. Es war ein schlichtes Haus, spärlich möbliert. Sicher sind mir damals die weißen Gazevorhänge an den Fenstern aufgefallen, ein

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