Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
wohl und würde wahrscheinlich nicht kommen. Dafür fragte sie mich, ob sie vorbeikommen und telefonieren könne, da der Supermarkt in Machias am ersten Feiertag geschlossen hatte. Ich hatte den Eindruck, daß sie nicht zu gleicher Zeit mit Jack, Rebecca und den Kindern hier sein wollte, und sagte, sie könne ja gegen Mittag kommen. Die anderen wollten nämlich erst so um drei da sein.
Ja, sie kam. Und sie hat auch telefoniert.
Ich weiß nicht, wen sie angerufen hat und was sie gesagt hat, ich habe sie beim Telefonieren allein gelassen, ich fand, das ginge mich nichts an. Hinterher wollte sie mir vier Dollar für das Telefonat geben. Als ich die nicht nehmen wollte, haben wir uns auf zwei Dollar geeinigt.
Danach habe ich Mary eine ganze Weile nicht gesehen. Ich hatte viel zu tun und nach Weihnachten gönne ich mir gern mal eine kleine Pause, drum sind fast zwei Wochen vergangen, ehe ich mal wieder zum Haus rüberkam.
Ich erwähne das nur, weil ich sonst vielleicht nicht so lange gebraucht hätte zu merken, was vorging.
Mary Amesbury
Ich fiel mitten im Gemeindepark in Ohnmacht. Ich war nie zuvor in Ohnmacht gefallen. Es hat mich einfach überrascht.
Ein Mann stand über mich gebeugt. Ich kannte sein Gesicht, es war verwittert, und die Augen waren alt. Er sagte mir, daß dem Kind nichts passiert sei, und fragte, ob ich aufstehen könne. Dann sah ich Julia, und Caroline fiel mir ein. Wo ist Caroline? fragte ich und sah verängstigt nach allen Seiten. Eine Frau neben mir zeigte mir Caroline, wollte sie mir aber nicht geben. Der Kleinen gehe es gut, sagte sie immer wieder.
Ich ging mit zu Julia. Ich spürte die Hände des Mannes, der mich stützte, dann war er plötzlich fort. Ich trank den Brandy, den Julia mir gab, aber das Essen brachte ich nicht hinunter. Ich konnte ihr nicht sagen, was ich gesehen, die Bilder nicht beschreiben, die mich verwirrt hatten. Mir war einzig bewußt, daß ich Aufsehen erregt hatte und alle möglichen Leute sich um mich gekümmert hatten. Und mir war bewußt, was für ein Glück ich gehabt hatte. Wenn ich daran dachte, was Caroline hätte geschehen können …
An den ersten Feiertag habe ich überhaupt keine Erinnerung. Nichts an diesem Tag hat sich mir eingeprägt. Meine Mutter sagt, ich hätte sie gegen Mittag angerufen und ihr erzählt, Harrold, Caroline und ich würden uns jetzt gleich zum Weihnachtsessen setzen, aber auch daran erinnere ich mich nicht.
Die nächsten beiden Nächte schlief ich kaum.
Heute morgen habe ich Ihren Brief bekommen. Ja, ich verstehe, daß Sie mit Ihrem Termin für den Bericht unter Druck sind. Ich werde mich also mit dem nächsten Kapitel beeilen.
Ich schreibe jetzt die ganze Nacht. Ich schlafe wenig. Meine Zellengenossin und ich sind das perfekte Paar. Je mehr ich wach bin, desto mehr schläft sie, wie um das Defizit auszugleichen.
Ich frage mich manchmal, was Sie für ein Leben führen. Ich habe Ihnen soviel über mich selbst geschrieben und weiß doch fast nichts über Sie. Ich denke über dieses Ungleichgewicht nach, überlege, was Sie mit den vielen beschriebenen Seiten anfangen werden, die ich Ihnen geschickt habe.
Einige Tage nach Weihnachten kam, wie vorausgesagt, Tauwetter und erwärmte die Küste. Und mit dem Tauwetter kam der Nebel. Eines Morgens erwachte ich und wußte sofort, daß etwas fehlte. Ich hatte den Pick-up nicht gehört. Ich ging zum Fenster, aber ich konnte nichts sehen. Ich ging nach unten, machte das Badezimmerfenster auf und sah zu, wie der Nebel sich über das Fensterbrett wälzte.
Als ich wieder in der Küche war, hörte ich die Nebelhörner, eines im Norden, eines im Süden, nicht ganz synchron, das eine mit einem tiefen klagenden Ton, das andere mit einem etwas höheren, riefen sie einander über Weiten feuchter grauer Luft und grauen Wassers an. Und wenn sie schwiegen, konnte man ein sachtes Plätschern von Wasser hören.
Sechs Tage lang hatten wir fast ununterbrochen Nebel. An zwei oder drei Tagen während der Tauwetterperiode war es morgens, als ich erwachte, klar. Aber am späten Vormittag, wenn ich gerade Caroline stillte oder das Geschirr spülte, trieb still und heimlich der Nebel herein, löschte erst Farben, dann Formen, dann auch die Sonne aus. Zuerst fegte der Wind Nebelfetzen über die Sandbank, und wenig später war die ganze Insel verschwunden. Einfach verschluckt. Es gab sie nicht mehr.
Am ersten und am zweiten Tag der kurzen, warmen Periode fuhr das grün-weiße Boot nicht hinaus, aber am dritten
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