Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
weiter. Ich vermerkte nur, daß er nicht zurückgekommen war. Ich habe ja schon gesagt, daß die Rückkehr des Boots, wenn ich es hinter der Insel hervorkommen sah, eine Art Markstein in meinem Tagesablauf war. Ohne ihn war der Tag nicht rund.
Ich strickte an einem zweiten Pullover für Caroline, hatte den Rücken schon fast fertig. Caroline lag oben und machte ihren Mittagsschlaf. Ich griff zu meinem Strickzeug, im Hintergrund spielte das Radio.
Seltsam jetzt zu denken, daß ich damals nicht geschrieben habe. Oder vielleicht auch überhaupt nicht seltsam. Schreiben hätte sich erinnern bedeutet.
Um drei war das Boot immer noch nicht zurück. Ich horchte auf alle Geräusche von draußen und ging häufig ans Fenster, um in das undurchdringliche Grau hinauszusehen. Um vier war es dunkel geworden und alle Pick-ups bis auf einen waren weg. Bei Nebel wurde es früh Nacht auf dem Kap. Ich trug Caroline herum. Ich stillte sie. Ich machte mir eine Tasse Tee. Ich hörte die Nachrichten. Dann machte ich mir etwas zu essen. Um sechs war es draußen stockfinster. Ich überlegte, ob ich nicht zu dem blauen Haus hinaufgehen und Bescheid sagen sollte, daß das grün-weiße Boot noch immer nicht zurück war. Aber war das überhaupt meine Aufgabe? Wer würde sonst noch wissen, daß er nicht zurückgekommen war? Seine Frau und seine Tochter? Würden sie mir meine Einmischung übelnehmen? War es vielleicht ganz normal, daß er hin und wieder nicht zurückkam? Und was, wenn er kurzerhand zum Dorfkai gefahren war? Er hatte ja erwähnt, daß er das bei schlechtem Wetter manchmal tat. Vielleicht hatte er es auch heute getan, weil er wußte, daß es neblig werden würde, und ich hatte ganz umsonst gewartet. Da würde ich mich nur lächerlich machen, wenn ich Alarm schlug, und noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Um halb sieben packte ich Caroline in ihren Schneeanzug, legte sie in das Tragetuch und ging mit ihr hinaus ins Freie. Ich konnte es im Haus nicht mehr aushalten. Es war mir gleich, daß ich kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Ich brauchte einfach frische Luft.
Vorsichtig suchte ich mir meinen Weg die Landzunge hinunter. Ich glaubte, mich inzwischen gut genug auszukennen, um nichts fürchten zu müssen. Ich konnte mich von meinen Füßen führen lassen und mich an dem jeweiligen Untergrund, Kies oder Gras oder Sand, orientieren.
Die Luft war so feucht, daß man beinahe sofort das Gefühl hatte, bis auf die Haut naß zu sein. Ich hielt Caroline fest an mich gedrückt. Unter meinen Turnschuhen fühlte ich den Kies. Nach ungefähr fünfzehn Metern drehte ich mich herum und blickte zurück. Vom Haus war schon nichts mehr zu sehen. Die Lichter, die im Wohnzimmer brannten, waren ausgelöscht. Ich konnte gerade einmal zwei oder drei Schritte voraus sehen, das war alles. Es war ein unheimliches Gefühl, als befände man sich in einer anderen Welt. Ich glaube nicht, daß ich Angst hatte, trotzdem werde ich dieses Gefühl nie vergessen. Die Welt um mich herum war verschwunden. Es gab nur noch mein Kind und mich. Von Zeit zu Zeit vernahm ich Geräusche aus der Welt, aus der ich gekommen war – die Nebelhörner, das Brummen eines Autos auf der Küstenstraße, ein merkwürdiges Fiepen über mir, wie von Fledermäusen – aber in dieser Finsternis konnte man nicht an die Existenz dieser Welt glauben. Vielleicht hatte ich doch Angst, aber gleichzeitig war ich wie aufgedreht. Die Anonymität, die Abgeschiedenheit, die Geborgenheit – es war vollkommen. Niemand konnte uns hier finden: Nicht Harrold und nicht Willis, nicht einmal Julia oder meine Mutter, so gut sie es vielleicht auch meinten. Es war so, wie ich es mir in meinen Träumen vorgestellt hatte: Ich allein mit meinem Kind, geschützt und behütet.
Da hörte ich plötzlich den Motor. Ich kannte längst seine kleinen Eigenarten. Das Geräusch wurde lauter und noch lauter, dann verstummte es. Ich fragte mich, wie er den Anlegeplatz gefunden hatte. Ich hörte die Schläge des Ruders, die Geräusche der Rückkehr. Vielleicht ging ich diesen Geräuschen entgegen. Vielleicht kannten meine Füße den Weg besser als ich geahnt hatte.
Heute frage ich mich – und ich habe oft über diese Frage nachgedacht –, ob sich die Dinge auch so entwickelt hätten, wenn nicht der Nebel gewesen wäre und dieses Gefühl vollkommener Isolation jenseits einer versunkenen Welt.
Wie in einem Traum hob sich seine Gestalt aus dem dunklen Nebel. Er muß den gleichen Eindruck gehabt haben, als er
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