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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Morgen hörte ich den Pick-up. Es war einer jener Tage, an denen es noch klar war, und ich in meiner Ahnungslosigkeit fühlte mich wie neugeboren, als bei Tagesanbruch in der Ferne die Inseln sichtbar wurden. Als mir bewußt wurde, in welchem Maß die Rückkehr der Sonne meine Stimmung aufgehellt hatte – und wir hatten ja bisher nur zwei Nebeltage gehabt –, hatte ich mehr Verständnis für die Schwermut der Frauen im Dorf, von der Willis mir erzählt hatte. Ich fragte mich allerdings, wieso Willis mir nur von schwermütigen Frauen berichtet hatte. Machten denn den Männern die grauen Tage nichts aus? Oder waren sie für sie leichter zu ertragen, weil sie die graue Düsternis als Herausforderung sehen konnten, wenn sie aufs Wasser hinausfuhren?
    Caroline schien sich von meiner Stimmung anstecken zu lassen und war an diesem Morgen ungewöhnlich zufrieden und vergnügt. Sie übte sich jetzt seit mehr als zwei Wochen darin, das Gleichgewicht zu halten, wenn es ihr gelungen war, sich auf alle viere aufzurichten, und hatte gelernt, sich abzustoßen und vorwärtszuwerfen. Bald, dachte ich, während ich sie vom Küchentisch aus beobachtete, würde sie krabbeln. Aber Ungeduld war mir fremd geworden. In diesen Tagen, da nichts mich zwang, irgend etwas zu tun oder zu unternehmen, war ich es mehr und mehr zufrieden, mich von Tag zu Tag treiben zu lassen.
    Ich las gerade ein Buch, und Caroline schlief oben, als der Nebel zurückkehrte. Zuerst waren es nur luftige kleine Dunstfetzen, die rasch vorüberzogen, dann aber fiel der Nebel wie ein undurchsichtiger Schleier herab, der alles einhüllte. Das Licht trübte sich, man hatte den Eindruck, es wäre plötzlich Abend geworden, obwohl es erst Mittag war. Ich mußte Licht machen, um weiterlesen zu können. Mit dem Hereinbrechen des Nebels wurde es auch im Haus kühl, aber vielleicht schien das nur so, weil die Sonne weg war. Ich ging zum Fenster. Ich konnte jetzt nicht einmal mehr das Fischhaus sehen, und den roten Pick-up konnte ich nur in schwachen Umrissen erkennen. Die Spitze der Landzunge war völlig verschwunden.
    Draußen klopfte es.
    Willis kam herein, als wäre er eben dem Meer entstiegen. Der Nebel haftete in tausend Wassertröpfchen an ihm – an seiner Jeansjacke, seinem Schnauzer, seinem Haar. Er hielt einen Becher Kaffee in der Hand.
    »Ich hab mir diesmal selber welchen mitgebracht«, sagte er und schloß die Tür hinter sich.
    Ich war froh, daß ich schon angezogen war.
    »Die reinste Waschküche da draußen«, sagte er.
    »Ich dachte, der Nebel wär vorbei«, erwiderte ich.
    Im Radio spielte ein Streichquartett. Die elegische Musik paßte zu der Aussicht vor meinem Fenster.
    Er lachte mitleidig, als hätte ich soeben etwas unglaublich Naives gesagt.
    »Träumen Sie weiter. Der Nebel bleibt noch tagelang. Am besten gewöhnen Sie sich daran. Bedrückt er Sie?«
    »Nein«, log ich. »Gar nicht.«
    »Das ist gut.« Er setzte sich an den Küchentisch und sah mich an.
    »Jack ist draußen«, bemerkte er.
    »Ach«, sagte ich.
    »Er hat wahrscheinlich gedacht, er wird’s schaffen, vor dem Nebel zurückzusein.«
    »Oh.«
    »Ich würd an so einem Tag nicht um viel Geld rausfahren.«
    »Nein.«
    »Und – was wollen Sie jetzt den ganzen Tag tun?«
    »Das gleiche, was ich immer tue«, antwortete ich. »Mich um mein Kind kümmern.«
    »Es fehlt Ihnen nicht?«
    »Was?«
    »Ihr früheres Leben. Da, wo Sie hergekommen sind.«
    »Nein«, sagte ich.
    »Muß ja ziemlich übel gewesen sein«, meinte er. »Ihr Mann.«
    Ich sagte nichts.
    »Sie kommen also aus Syracuse, hm?«
    Ich nickte.
    »Ist das eine schöne Stadt?«
    Ich zuckte die Achseln. »Hier gefällt’s mir besser.«
    »Sie sehen auch besser aus«, stellte er fest.
    »Danke.«
    Er seufzte. »Na schön, Füchslein, dann mach ich mich jetzt mal wieder auf die Socken. Mittagessen. Nächste Woche fang ich als Fahrer für eine Transportfirma an. Ich haß es wie die Pest, aber wir brauchen das Geld. Brauchen Sie irgendwas?«
    Das fragte er mich jeden Tag.
    »Nein, danke«, antwortete ich.
    Caroline begann zu weinen. Ich war froh.
    »Hoffentlich hab ich sie nicht geweckt«, sagte er.
    Ich schüttelte den Kopf. Er stand auf. Er ging zur Tür, öffnete sie und zögerte. Der Nebel drehte sich um ihn.
    »Halten Sie nur schön nach Jack Ausschau«, sagte er und lächelte.
    Der grün-weiße Kutter kam nicht wie sonst um zwei Uhr zurück. Ich dachte mir, daß wahrscheinlich der Nebel seine Rückfahrt behinderte, und sorgte mich nicht

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