Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
mich wahrnahm. Ich dachte mir, daß mein plötzliches Erscheinen ihn wahrscheinlich erschrecken würde, darum sprach ich ihn sogleich an.
»Sie sind zurück«, sagte ich.
Ich fand, mein Ton klänge unbekümmert, heiter.
Er erschrak wirklich. Er war auf dem Weg vom Ruderboot zum Pick-up gewesen und blieb abrupt stehen. In jeder Hand trug er einen Eimer. Ich konnte die Hummer in den Eimern hören, sehen konnte ich sie nicht.
Er stellte die Eimer nieder.
»Geht es Ihnen wieder gut?« fragte er.
»Ja«, antwortete ich. »Danke.«
»Was tun Sie hier draußen?«
»Ich wollte nur ein bißchen frische Luft schnappen. Im Haus ist mir die Decke auf den Kopf gefallen.«
Er sah zuerst mich an, dann Caroline in dem Tragetuch.
»Sie sollten wieder reingehen«, sagte er. »Der Nebel ist gefährlich. Da kann man sich leicht verirren.«
»Wie denn!« versetzte ich, aber meinem Ton fehlte die Überzeugung.
»Ich lebe seit meiner Kindheit hier. Ich kenne die Küste und das Wasser so gut wie meine eigenen Kinder. Aber bei Nebel bin ich ein Fremder. Bei Nebel kann man keiner Wahrnehmung trauen.«
»Warum sind Sie dann heute hinausgefahren?« fragte ich.
Er blickte zum Wasser hinaus. »Das weiß ich auch nicht. Ich dachte, ich würde es schaffen, vor dem Nebel wieder hier zu sein. Aber er hat mich hinter Swale’s Island überrascht. Ich hab praktisch den ganzen Tag für die Rückfahrt gebraucht. Dummheit. Das war eine Dummheit von mir.«
Er sprach leise und sachlich, ohne viel Emotion, aber ich begriff, daß auch er manchmal Wagnisse einging. Daß er eine Dummheit gemacht hatte, war lediglich eine Tatsache, kein Anlaß zu großem Bedauern. Jenseits seiner Stimme konnte man die Nebelhörner hören.
»Ihre Frau wird sich Sorgen machen«, meinte ich.
»Ich hab über Funk mit ihr gesprochen. Sie weiß, daß ich da bin.«
Er sah mich an, als dächte er nach.
»Sie kommen jetzt mit mir zum Wagen, und wenn ich die Eimer verstaut hab, bring ich Sie zum Haus zurück.«
»Ach was, ich kann doch …«, begann ich.
»Ich werd Sie doch nicht einfach hier draußen stehenlassen«, unterbrach er mich und ergriff die beiden Eimer, als gäbe es nichts weiter zu sagen.
Ich ging hinter ihm her. Er hatte stark abfallende Schultern. Sein Haar war feucht, der Ölmantel tropfnaß. Über seinen Jeans hatte er hohe Gummistiefel an, die ihm weit über die Knie reichten. Er hatte große Hände mit langen Fingern. Ich betrachtete diese Hände, die die Henkel der Eimer umfaßt hielten.
Am Wagen angekommen, stellte er die Eimer auf die Ladefläche.
»Also, dann«, sagte er.
Er machte kehrt, und wir schlugen den Weg zum Haus ein. Er schien ihn besser zu kennen als ich, darum ließ ich mich von ihm führen, hielt mich wieder ein paar Schritte hinter ihm. Er hatte recht gehabt, das wurde mir jetzt klar. Der Nebel täuschte. Ich wäre in eine ganz andere Richtung gegangen, nach Süden, die Küste entlang. Ich hätte das Haus erst einmal verfehlt, aber ich war sicher, daß ich es nach einigen Versuchen gefunden hätte.
Jetzt hob es sich vor uns aus dem Nebel. Zuerst sah ich den Lichtschein aus dem Wohnzimmer, dann die Konturen des Hauses selbst. Das Licht drinnen wirkte warm und einladend.
Er ging mit mir den Hang hinauf zur Haustür. Ich legte die Hand auf den Türknauf. Ich kam mir vor wie ein Schulmädchen, das von einem Lehrer nach Hause gebracht worden war und zu schüchtern war, um ein Wort zu sagen.
»Vielen Dank«, sagte ich.
Er sah mich an. »Gegen eine Tasse Tee hätte ich nichts einzuwenden«, meinte er.
Er sprach so leise, daß ich nicht wußte, ob ich richtig gehört hatte. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« fragte ich.
»Gern, danke«, sagte er. »Mir ist ganz schön kalt von der Feuchtigkeit.«
»Wird Ihre Familie …?«
»Sie wissen, daß ich da bin. Sie machen sich jetzt keine Sorgen mehr.«
Ich öffnete die Tür, und wir traten ein. Ich ging direkt zum Herd, nahm den Kessel, füllte ihn und zündete das Gas an.
»Würden Sie auf das Wasser achten«, sagte ich. »Ich muß nach oben und Caroline ins Bett bringen.«
Im Wohnzimmer zog ich meinen Mantel aus und nahm Caroline aus dem Tragetuch. Ich trug sie nach oben, zog ihr ihren Schlafanzug an und setzte mich aufs Bett, um sie zu stillen. Nach einiger Zeit konnte ich unten den Kessel pfeifen hören, dann klapperte Geschirr, das aus dem Schrank geholt wurde. Ich hörte, wie er sich am Spülbekken die Hände wusch. Der Kühlschrank wurde geöffnet und wieder geschlossen. Ich
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