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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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hörte ihn an der Besteckschublade.
    Als ich wieder hinunterkam, saß er am Tisch. Der Ölmantel hing an einem Haken an der Tür und tropfte auf das Linoleum. Er hatte seine Gummistiefel ausgezogen. Die ganze Küche roch nach Meer, wahrscheinlich von dem Ölmantel oder den Stiefeln. Ich beobachtete ihn einen Moment von der Tür aus. Kann sein, daß er wußte, daß ich dort stand, aber er ließ sich nichts anmerken. Er hatte einen sehr langen Rücken, so lang, daß sein Pulli über dem Bund seiner Jeans hochgerutscht war. Aber der Rücken war breit, und seine Schultern waren nicht so abfallend, wie es zuvor ausgesehen hatte. Er trank seinen Tee und drehte sich nicht herum. Rechts von ihm, an der anderen Tischseite, stand eine Tasse für mich. Er hatte den Tee ziehen lassen und den Beutel herausgenommen. Er hatte Milch und Zucker auf den Tisch gestellt.
    Ich setzte mich und sah ihn an. Ich hatte sein Gesicht nie bei Licht gesehen. Eine Stille ging von ihm aus, und die Bewegungen seiner Augen waren langsam. Wieder fielen mir die tiefen Furchen zu beiden Seiten seines Mundes auf. Sein Gesicht hatte Farbe und war für immer vom Wetter gebräunt. Er sah mich an, aber wir sprachen beide nicht.
    »Die Wärme tut gut«, bemerkte er schließlich.
    »Haben Sie heute viele Hummer gefangen?« fragte ich.
    »Vor dem Nebel hatte ich ein bißchen Glück«, antwortete er. »Aber insgesamt war es nicht viel. Spielt aber keine Rolle.«
    »Wieso nicht?«
    »Um diese Jahreszeit ist man für alles dankbar.«
    »Warum tun Sie das eigentlich? Ich meine, warum fahren Sie raus, wenn es sonst keiner tut?«
    Er lachte mit grimmigem Spott. »Wahrscheinlich genau deshalb, weil es sonst niemand tut. Nein, im Ernst, ich bin gern draußen. Ich bin oft so rastlos …«
    »Ist das denn nicht gefährlich?« fragte ich. »Ich hab den Eindruck, daß ich dauernd von Ertrunkenen höre.«
    »Na ja, das kann schon passieren …«
    »Wenn man nicht vorsichtig ist?«
    »Selbst wenn man vorsichtig ist. Über manche Dinge hat man keine Gewalt. Aber für heute gilt das nicht. Heute hätte ich einfach gescheiter sein müssen. Aber wenn einen plötzlich ein Sturm überrascht oder der Motor streikt …«
    »Was tut man dann?«
    »Man versucht, irgendwie zurückzukommen. Und man bemüht sich, keine Fehler zu machen.« Er stützte sich auf einen Ellbogen und wandte sich mir zu.
    »Ihnen geht’s also wieder gut«, sagte er. »Seit dem Heiligen Abend, meine ich.«
    »Ach so! Ja. Danke. Es war mir richtig peinlich, einfach so umzukippen. Ich bin noch nie vorher ohnmächtig geworden. Ich weiß nicht, was da plötzlich über mich gekommen ist.«
    »Nur eine Horde junger Burschen, die gegen den Krieg protestieren wollten«, sagte er. »Mein Sohn hätte wahrscheinlich auch mitgemacht, aber der war zu Hause bei … meiner Frau. Sie haben ausgesehen, als wären Sie im Schock.«
    »Ach?« Ich senkte den Blick. »Tatsächlich?«
    »Was haben Sie erlebt?« fragte er leise. »Warum sind Sie hier?«
    Die Frage kam so unerwartet, ich fühlte mich mitten ins Herz getroffen. Vielleicht lag es an seiner ruhigen Stimme, vielleicht an der Art und Weise, wie ich ihn im Nebel gefunden hatte, vielleicht an der Einfachheit seiner Frage, die eine ehrliche Antwort verlangte. Ich drückte eine Hand auf meinen Mund. Meine Lippen waren fest geschlossen. Zu meinem Entsetzen schossen mir die Tränen in die Augen, als wäre ich wirklich ins Herz getroffen worden. Ich konnte nicht sprechen. Ich wagte nicht, mir die Augen zu wischen. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Seit ich aus der Wohnung in New York geflohen war, hatte ich nicht ein einziges Mal geweint. Ich war zu betäubt gewesen, um zu weinen, vielleicht auch zu vorsichtig.
    Er zog mir die Hand vom Mund und hielt sie fest. Er sagte kein Wort. Seine Augen waren grau. Er sah mich unverwandt an.
    »Ich war mit einem Mann verheiratet, der mich geschlagen hat«, sagte ich nach langer Zeit. Und danach atmete ich tief durch.
    Es klang entsetzlich, unwirklich, hier in diesem Haus.
    »Sie haben ihn verlassen«, sagte er.
    Ich nickte.
    »Erst vor kurzem. Sie sind davongelaufen.«
    »Ja.«
    »Weiß er, wo Sie sind?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wenn er es wüßte, wäre er schon hier, um mich zu holen. Da bin ich ganz sicher.«
    »Sie haben Angst vor ihm.«
    »Ja.«
    »Hat er Ihnen das angetan?«
    Mit einer Kopfbewegung wies er zu meinem Gesicht. Ich wußte, daß die Wunden fast verheilt waren, die Haut nicht mehr blau unterlaufen

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