Gefrorene Seelen
Mensch war, mit dem er sein Schicksal, ganz gleich, wie es aussähe, teilen konnte.
Aber Eric Fraser dachte nicht gern an die Vergangenheit. Dieschrecklichen, bedrückenden Jahre in Toronto, die Feindseligkeit, die seine Zeit in St. Bart’s geprägt hatte – all das kam ihm vor, als habe es höheren Orts eine Verwechslung gegeben, so dass er nun mit einem engen, beschränkten Leben vorlieb nehmen musste, das eigentlich für jemand anderen bestimmt gewesen war. Man hatte ihm sein eigentliches, wirkliches Leben gestohlen.
Das hätte nicht so kommen müssen, dachte er, während er an der alten CN-Sendestation vorbei zu Edies Haus fuhr. Der ganze Schlamassel wäre ihm erspart geblieben, wenn er damals schlau genug gewesen wäre, Janes Mund mit Klebeband zu verschließen.
44
L ise Delorme hatte bei ihrem Job nicht viel Zeit mit Observierungen verbracht. Mittwochnacht stellte sie fest, dass sie nicht besonders gut war im Herumstehen und Warten, schon gar nicht zu nachtschlafender Zeit in einem ungeheizten Ladengeschäft neben dem New-York-Restaurant. Zum Glück war es dank warmer Kleidung und einem Heizlüfter einigermaßen erträglich.
Das New-York-Restaurant erfreut sich bei den kriminellen Elementen von Algonquin Bay großer Beliebtheit, und das seit jeher, jedenfalls seit weit vor Delormes Zeit. Niemand weiß so recht, warum. Am Essen kann es nicht liegen, denn das konnte selbst einem hartgesottenen Ex-Knacki nicht munden. McLeod behauptete, die Steaks kämen aus der Küche des Polizei-College in Aylmer. Vielleicht verleiht der weltstädtische Name dem Laden ein gewisses Prestige – zumindest in den Augen von Kleinstadtganoven. Allerdings darf stark bezweifelt werden, dass irgendein Mitglied der hiesigen Verbrecherkreise jemals auch nur in die Nähe von New York City gekommen ist. Sie sind genauso wenig darauf erpicht, Städte mit hoher Verbrechensrate kennen zu lernen, wie ihre Mitbürger.
Musgrave meinte, es seien die beiden Eingänge. Das New York ist das einzige Restaurant in Algonquin Bay, das man durch einen hell erleuchteten Eingang an der Hauptstraße betreten und durch einen Nebeneingang, der in die Dunkelheit der Oak Street führt, wieder verlassen kann. Delorme wiederum meinte, es liege an den hohen, protzigen Spiegeln an der Wand, die das Lokal gleich doppelt so groß erscheinen ließen, wie es tatsächlich war, und an den Polsterbänken aus rotem Kunststoff mit Goldapplikaturen, die wohl noch aus den fünfziger Jahren stammten. Delorme hatte eine Theorie, wonach Ganoven in mancher Hinsicht wie Kinder waren und die Vorliebe der Kleinen für bunte Farben und glänzende Gegenstände teilten. So betrachtet, war das New York, vonden goldumrandeten Speisekarten bis zu den staubigen Lüstern, der passende Laufstall für schwere Jungs.
Und selbstverständlich ist das New York das einzige Restaurant in Algonquin Bay, das rund um die Uhr geöffnet ist, worauf eine leuchtend rote Neonschrift – warnend – hinweist:
Das New York schläft nie
.
Was immer auch die Gründe für seine Beliebtheit sein mögen, das New York ist dadurch für die verschiedenen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden von großem Interesse. Kripoleute ermannen sich, dort inmitten anderer Gäste zu speisen, die sie schon einmal hinter Gitter gebracht haben. Manchmal plaudert man sogar miteinander oder gibt durch Kopfnicken zu verstehen, dass man sich kennt. Manchmal wirft man sich auch nur kalte Blicke zu. Zweifellos kann ein kluger Polizist hier so manche nützliche Information bekommen.
»Er hätte es sich nicht besser aussuchen können«, sagte Musgrave. »Falls ihn irgendjemand erkennt, kann er leicht erklären, wie er in die Gesellschaft einer Ratte wie Corbett geraten ist. Obgleich ihn an einem Mittwoch um zwei Uhr früh wohl kaum ein Kollege sehen wird.«
Das frühere Wäschegeschäft neben dem New-York-Restaurant stand seit einem halben Jahr leer, und der Vermieter, eine Bank, hatte den Mounties gern die Schlüssel überlassen. Um ihrem Treiben einen Vorwand zu geben, hatten sie das Schaufenster abgedeckt und mit der Aufschrift »Neueröffnung in Kürze« versehen.
Das einzige Licht im Ladengeschäft kam von den aufgesteckten Lämpchen über den elektronischen Apparaten. Delorme wartete im Dunkeln zusammen mit Musgrave und zwei Mounties in blauen Arbeitsanzügen, die – wahrscheinlich auf strikte Anweisung – kein Wort mit ihr sprachen. Die »Handwerker« waren schon seit Mittag hier; Delorme war gegen neun Uhr abends
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