Gefrorene Seelen
LaBelle ist der dritte Sohn in einer erfolgsverwöhnten Familie. Er glänzt aber nicht so wie seine Brüder, die Footballstars. Er bringt auch keine erstklassigen Schulnoten nach Hause wie seine hochbegabte Schwester. Er ist dreizehn, und sein Selbstwertgefühl ist im Keller. Billy LaBelle hat sich entschieden auszusteigen. Der Junge ist ganz einfach abgehauen.«
Wohin, das war dann nicht mehr so klar. Billy war am 14. Oktober verschwunden, einen Monat nach Katie Pine. Zuletzt wurde er in der Algonquin Mall gesehen, wo er mit Freunden herumhing. Die Ermittlungsakte enthielt Gesprächsprotokolle von Lehrernund den drei Jungen, die mit ihm im Einkaufszentrum gewesen waren. Gerade hat er noch im Radio Shack an einem Computer »Mortal Kombat« gespielt, da sagt er plötzlich, er müsse jetzt den Bus nach Hause nehmen. Als einziger der vier Jungen wohnt er in Cedargrove, deshalb geht er allein. Niemand sieht ihn wieder. Billy LaBelle, zwölf Jahre alt, verlässt die Algonquin Mall und existiert seither nur noch in den Ermittlungsakten.
Dyson hatte Cardinal nach Billys Verschwinden ein paar Wochen lang freie Hand gegeben, aber dann fing es an, eng zu werden: keine Indizien für Mord, der Junge war schon einmal von Zuhause weggelaufen, andere Fälle gingen vor. Cardinal wehrte sich, für ihn stand fest, dass beide Kinder ermordet worden waren, vermutlich vom selben Täter. Dyson über Billy LaBelle: »Menschenskind, schauen Sie sich doch den Fall an. Der Junge hatte nichts zu bieten. Ich wette, er hat sich irgendwo den Rest gegeben und kommt mit dem Frühlingshochwasser den French River herunter.«
Aber warum gab es keine vorangegangenen Selbstmordversuche? Warum keine sichtbaren Zeichen von Depression? Dyson hatte sich dazu taub gestellt.
Cardinal schob die Akte LaBelle beiseite. Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und legte ein weiteres Holzscheit ins Feuer. Funken stoben in die Höhe.
Er öffnete die Akte Fogle, die außer der ersten Seite – die Fakten aus dem Bericht, den die Polizei von Toronto freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte – wenig enthielt. Ich hätte sehen müssen, wie sich die Dinge entwickeln, dachte Cardinal, und vielleicht hatte er das ja auch. Dyson hatte Recht gehabt: Cardinal verpulverte viel Geld und die Arbeitskraft seiner Kollegen. Was sonst hätte er tun sollen, wenn Kinder plötzlich verschwinden?
Bei Margaret Fogle – mit siebzehn eigentlich kein Kind mehr – riss Dyson dann der Geduldsfaden. Eine siebzehnjährige Ausreißerin aus Toronto? Das war nun wirklich kein dringlicher Fall. Zuletzt von ihrer Tante in Algonquin Bay gesehen. McLeods Ermittlungsberichtmit den für ihn typischen Grammatikfehlern (»die Eltern, wo geschieden leben«) befand sich ebenfalls im Ordner. Das Reiseziel, nach Angabe des Mädchens: Calgary, Provinz Alberta. »Dazwischen liegen ein halber Kontinent und mehrere hundert Polizeidirektionen, die dafür zuständig sind, sie zu suchen«, hatte Dyson kommentiert. »Hören Sie, Cardinal, Sie sind nicht der einzige Polizist im Lande. Lassen Sie zur Abwechslung doch auch mal die Mounties etwas tun.«
Na schön, Margaret Fogle ist geschenkt. Aber wenn man sie aus der Gleichung nahm, schien es nur noch klarer, dass hier ein und derselbe Mörder am Werk war.
»Wie können Sie das behaupten?«, hatte Dyson geschäumt. Er war jetzt kein bisschen onkelhaft jovial. »Kinderschänder? Perverse? Die fahren entweder auf Jungen oder auf Mädchen ab, aber so gut wie nie auf beide.«
»Laurence Knapschaefer hatte Opfer beiderlei Geschlechts.«
»Laurence Knapschaefer. Ich wusste, dass Sie mit dem kommen würden, Cardinal. Aber für mich zu abwegig.«
Laurence Knapschaefer hatte vor zehn Jahren in Toronto fünf Kinder ermordet. Drei Jungen und zwei Mädchen. Ein Mädchen konnte ihm entkommen, so kam man ihm schließlich auf die Spur.
»Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, das ist Laurence Knapschaefer. Es gibt keine Leichen, folglich liegt auch kein Mord vor. Sie haben nicht den Hauch eines Beweises für Ihre Annahme.«
»Gerade das kann als Hinweis auf Mord gesehen werden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Der Mangel an Indizien. Das spricht nur für meine Theorie.« Er hatte an Dysons kaltem Blick gesehen, wie die Tür zuschlug und der Riegel vorgeschoben wurde. Aber er konnte es dabei nicht bewenden lassen, er konnte seinen Mund nicht halten. »Ein Ausreißer wird gesehen – von anderen Fahrgästen in Bussen, von Fahrkartenkontrolleuren,
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