Gefuehlschaos inklusive
einmal fällt es mir wieder ein: Gestern sah ich sie aus Herrn Ruhlands Büro herauslaufen. Er war nicht darin, trotzdem machte es mich nicht weiter stutzig. Jetzt aber stimmt es mich nachdenklich, denn eigentlich bin ich die Einzige, die das Chefbüro uneingeschränkt betreten darf. Ich nehme mir vor, sie später noch einmal darauf anzusprechen.
„Also gut. Ich gebe dem Verantwortlichen die Möglichkeit, das Geld bis morgen früh in die Geldkassette zurückzulegen. Sollte ich es bis dahin nicht darin vorfinden, wird es alle Mitarbeiter treffen. Ich werde eine Kürzung der Weihnachtsgratifikation in Betracht ziehen. Also überlegen Sie es sich zukünftig gut, ob sie skrupellos Geld aus der Firmenkasse entwenden!“
Alle stöhnen auf. Natürlich fühlen sie sich ungerecht behandelt. Ich mich auch.
„Wenn also keiner mehr was dazu zu sagen hat, dann gehen Sie jetzt bitte wieder an Ihre Arbeit.“
Tuschelnd verlässt die Belegschaft das Büro. Auch ich will gerade gehen, als Herr Ruhland mich zurückruft.
„Frau Sander, kommen Sie bitte noch mal und schließen doch freundlicherweise die Tür.“
Ich folge seiner Bitte, doch lieber wäre ich Sylvia gleich hinterhergelaufen und hätte sie zur Rede gestellt.
„Haben Sie eine Ahnung, wer das Geld genommen haben könnte?“
„Ehrlich gesagt habe ich da eine Ahnung. Aber ... “
„Also los, raus mit der Sprache!“ herrscht er mich an. Also in diesem Ton schon mal gar nicht! Empört nehme ich sein ruppiges Verhalten zur Kenntnis, würde ihm aber gerne mal ein paar Takte dazu sagen. Doch ich verkneife mir meinen Kommentar, denn ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm selten der Geduldsfaden reißt. Aber diese Sache muss ihn schon sehr wurmen.
„Sie sollten zu Ihrem Wort stehen. Der Schuldige bekommt die Möglichkeit, das Geld folgenlos in die Kasse zurückzulegen. Ich habe derzeitig nicht die Absicht, den Namen vor Ablauf der Frist preiszugeben. Außerdem handelt es sich lediglich um einen Verdacht. Nichts weiter.“
Ich hoffe, den Bogen nicht überspannt zu haben, denn er wirft mir einen fragwürdigen Blick zu. Eine ganze Weile sagt er nichts und starrt mich nur an.
„Also schön. Wir warten bis morgen. Sollte das Geld dann allerdings nicht in der Kasse liegen, werden Sie mir mitteilen, um wen es sich handelt.“ Mein darauf folgender Protest wird von ihm im Keim erstickt, denn er schneidet mir sofort das Wort ab. „Keine Widerrede!“
Er macht eine ungehaltene Geste zur Tür und sofort ist klar, dass jedes weitere Aufbäumen vergebens wäre. Daher verlasse ich folgsam sein Büro. Gereizt laufe ich zu Sylvia, doch sie sitzt nicht an ihrem Tisch.
„Sie ist schon seit über fünfzehn Minuten auf der Toilette und ich darf hier alle eingehenden Anrufe alleine bewältigen“, nörgelt Tina.
Also mache ich auf dem Absatz kehrt und begebe mich zur Damentoilette.
„Sylvia, bist du hier drin?“, rufe ich durch den Türspalt. Leise trete ich ein, denn ich höre es aus einer der Kabinen wimmern. Ich tipple an den Waschbecken vorbei und klopfe an die Kabinentür.
„Sylvia, bist du das? Warum weinst du?“
Noch stelle ich mich unwissend, um sie nicht zu beunruhigen.
„Es ist nichts“, antwortet sie. „Ich bin schon wieder okay.“
Sie öffnet die Tür und wischt sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht. Achtlos geht sie an mir vorbei Richtung Ausgang. Bevor sie die Klinke herunterdrücken kann, halte ich sie am Arm zurück.
„Sylvia! Du kannst dich mir anvertrauen. Ich werde niemandem etwas sagen. Das verspreche ich dir.“
„Was soll ich dir denn sagen?“, fragt sie mich starrköpfig. „Glaubst du etwa, ich hätte das Geld genommen? Willst du das von mir hören?“
„Es geht nicht darum, was ich von dir hören will. Wenn du Hilfe brauchst, dann sag es mir bitte“, fordere ich sie auf. Wieder lösen sich ein paar Tränen und es dauert nicht lange, da platzt es aus ihr heraus.
„Oh Claudia, was soll ich denn nur machen? Ich habe das Geld genommen. Wenn das herauskommt, bin ich meinen Job doch los.“
„Aber warum hast du das denn getan?“
„Ich weiß es selbst nicht so genau. Als ich die Kasse dort stehen sah, habe ich einfach zugegriffen. Ich schäm mich so.“
„Hör zu“, beginne ich, „das Geld werde ich für dich in die Kasse zurücklegen und wenn es dir finanziell besser geht, gibst du es mir wieder. Von mir aus auch in Raten.“
Meine soziale Ader ist mir selbst manchmal unheimlich. Diese kleine Schwäche wird
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