Gefuehlschaos inklusive
darauf gekommen bin, ihn beim Vornamen anzureden.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sage ich mit belegter Stimme und drücke ein Loch in den Radiergummi.
„Mich beim Vornamen anzureden?“
„Ja, auch.“
„Ich verstehe“, sagt er nun und erhebt sich von seinem Stuhl. „Es ging wohl alles ein wenig zu schnell für dich. Ich hatte es schon geahnt. Trotzdem hoffte ich … nun ja, es war ein Fehler, das tut mir leid. Du hängst sicher noch an deinem Exfreund.“
Mein Radiergummi glitscht mir aus den Fingern und hüpft ein paar Mal auf der Tischplatte auf und ab, bevor er zu Boden fällt.
„Aber das ist es doch gar nicht!“ Ich erhebe mich ebenfalls, um auf ihn zuzugehen. „Sie – ich meine du bist mein Chef. Ich kann doch nicht mit meinem … Das geht einfach nicht.“
Christian hebt den Radiergummi wieder auf und drückt ihn mir lächelnd in die Hand.
„Da bin ich aber froh, dass es lediglich um deine moralischen Prinzipien geht. Dagegen bin ich vielleicht nicht ganz so machtlos.“
Mit einem spitzbübischen Lächeln verlässt er mein Büro und ich frage mich, ob ich ihn nicht besser in dem Glauben hätte lassen sollen, dass ich noch an meinem Exfreund hänge.
Leider bleibt mir nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, da das Telefon klingelt. Wenn du nicht nur ein Telefon wärst, hätte ich dich für deine Treulosigkeit disqualifiziert. Wage es nicht, mich noch einmal so im Stich zu lassen, wenn ich dich brauche. Sonst zerlege ich dich in deine Einzelteile!
Gegen Mittag ruft mich Stefan auf meinem Handy an. Ich freue mich über seinen Anruf. Er ist mir bereits ans Herz gewachsen. Es kommt mir so vor, als würde ich schon zu seiner Familie gehören, dabei bin ich nur eine Wochenend-Hochstaplerin, die seinen Eltern möglichst nie wieder unter die Augen treten sollte. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde ich mit meinem Bruder telefonieren. Ob wir vielleicht in einem früheren Leben verwandt waren?
„Stefan, schön von dir zu hören. Geht es deinem Vater besser?“, erkundige ich mich interessiert.
„Ja, es geht ihm wieder gut, er ist zäh.“
„Ich hoffe nicht, dass du wieder eine Vorzeigefrau benötigst.“
„Das wird wohl nicht mehr nötig sein. Ich werde es meinen Eltern am nächsten Wochenende erklären. Es wird Zeit, dass sie die Wahrheit erfahren.“
Ich freue mich über Stefans Entscheidung. Sicher wird es erst mal nicht einfach für ihn sein, aber er wird sich danach viel freier fühlen, wenn dieses Versteckspiel endlich ein Ende hat.
„Komm doch heute Abend bei mir vorbei, wenn du Zeit hast“, schlägt er vor. „Ich würde gern für euch … ich meine, dich kochen.“
„Hast du noch jemand anderen eingeladen?“, frage ich hellhörig geworden. Ich habe keine Lust, den Abend mit mir fremden Personen zu verbringen. Trubel hatte ich während der letzten Tage genug.
„Aber nein. Nur du und ich. Also, was ist? Hast du Lust?“
„Gern.“
Um neunzehn Uhr räume ich den Schreibtisch auf und packe meine Sachen zusammen. Leise schleiche ich an Christians Büro vorbei. Es brennt noch Licht in seinem Raum, aber er ist nicht da. Also gehe ich weiter zu den Fahrstühlen, als sich unerwartet jemand hinter mir räuspert. Ich fühle mich ertappt und drehe mich schuldbewusst um. Christian steht direkt vor mir und sieht erstaunt aus.
„Möchtest du schon gehen?“ Ich erwidere nichts. „Weshalb stiehlst du dich heimlich davon? Reden wir neuerdings nicht mehr miteinander, sodass es für dich nicht mal mehr angebracht erscheint, mir auf Wiedersehen zu sagen?“
Beschämt schaue ich zu Boden und weiß natürlich, dass diese Aktion ziemlich dumm war. Nur diese neue Situation ist einfach zu kompliziert für mich. Ich kann damit eben nicht umgehen.
„Hör zu, Claudia, ich will dich nicht bedrängen. Wenn du dir nicht sicher bist oder uns irgendetwas anderes im Weg steht, dann solltest du mir das sagen. Glaubst du etwa, ich würde das nicht verstehen?“
„Nein, das glaube ich nicht“, antworte ich leise und sehe weiterhin auf meine Füße. „Ich bin nur komplett verunsichert. Es ist nicht so, dass ich Sie … dass ich dich nicht mag. Aber gestern warst du noch mein Chef, der mich ins Theater ausgeführt hat, und jetzt … Es ist auf einmal alles ganz anders.“
Christian nimmt meine Hand, um mich von den Fahrstühlen fortzuziehen. Genau das meine ich: Mein Chef, Herr Ruhland, heißt plötzlich Christian und überschreitet neuerdings meine Intimdistanz. Wir gehen ein
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