Gefuehlsecht
ist sportlich und geht mehrmals die Woche laufen. Letztens hat er mit Erfolg seinen ersten Marathon absolviert.
Er ist sehr ehrlich und hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Deswegen passt das Jurastudium auch wirklich gut zu ihm, auch wenn bei der Berufswahl sein Vater bestimmt eine große Rolle gespielt hat. Außerdem ist er wahnsinnig intelligent und gebildet. Er weiß immer, was aktuell in der Politik los ist, und kennt sämtliche Politiker mit Namen. Damit meine ich, dass er nicht nur jedem Minister den passenden Namen zuordnen kann. Er weiß auch, wie der einzelne politisch denkt und handelt. Ich weiß meistens nur, wer eine schiefe Nase hat, wer gerade zum vierten Mal heiratet oder ein uneheliches Kind bekommen hat. Viel haben Jürgen und ich eigentlich nicht gemeinsam, außer dass wir uns eben beide dem Recht verschrieben haben. Aber vielleicht ist ja gerade diese Unterschiedlichkeit das Schöne. Wir ergänzen uns.
Jürgen wundert sich immer, dass ich bei meinen Arbeiten und Prüfungen fast immer mit einer Eins abschneide, weil mir eigentlich das logische Denken komplett fehlt. Meint Jürgen jedenfalls. Aber was Jürgen mit Logik erreicht, mache ich mit Einfühlsamkeit wett. Das geht auch. Selbst bei einem juristischen Text. Und so ganz unlogisch gehe ich ja auch nicht vor. Ich habe eben so meine ganz eigene Taktik. Eigentlich ist es gar nicht so schlecht, immer unterschätzt zu werden. Besonders wenn man dabei noch so überaus blond und zierlich ist wie ich. Ich kämpfe gar nicht erst gegen das Klischee an, sondern nutze es für mich. Manchmal überrasche ich damit sogar Jürgen. Besonders wenn er irgendwo nicht weiterkommt und ich ihm dann wie selbstverständlich eine Lösung präsentiere. Jürgen bringt Ordnung und so was wie Verlässlichkeit in mein Leben. Auf Jürgen kann ich mich immer verlassen. Aber fühle ich mich ohne Jürgen auch verlassen?
Ich horche tief in mich rein. Wenn ich ehrlich bin, hat er mir an diesem Wochenende bisher kein einziges Mal gefehlt. Nur ganz kurz, als ich festgestellt habe, dass er mich nicht darüber informiert hat, dass er vorübergehend ausgezogen ist. Was ist, wenn mir Jürgen auch nach drei ßig Tagen noch nicht fehlt? Wie selbstverständlich lebt Jürgen seit fast vier Jahren an meiner Seite. Reicht dies für ein ganzes Leben? Was ist, wenn Maja doch Recht hat und mir wirklich etwas fehlt? Irgendetwas von dem ich noch gar nicht weiß, dass es mir fehlen könnte? Warum habe ich nicht einfach Ja gesagt?
Langsam paddle ich Richtung Maja, die immer noch völlig bewegungslos im Wasser liegt. Sie konnte schon immer besser den »toten Mann« mimen als ich. Da schnellt Maja plötzlich aus dem Wasser. »Puppe, hast du das gehört?«
»Was denn? Da war nix.«
Dass Maja richtiggelegen hat, erfahren wir schon im nächsten Moment. Unser Schwimmbad ist auf einmal hell erleuchtet. Und schon ertönt auch eine tiefe Stimme: »Hallo, ist dort jemand?«
Es ist mitten in der Nacht und wir stehen splitternackt im Hotelpool. Ich bin nicht Kleopatra, denn sonst würde ich jetzt wütend brüllen: »Hinfort mit dir, lästiger Eindringling!«
Es reicht gerade noch für ein eindringlich gezischtes »Lass uns verschwinden«, da zieht Maja mich auch schon aus dem Pool, den Gang entlang, die Treppe hinunter, hinein in den dunklen Keller. Unsere Bademäntel bleiben kunstvoll drapiert dort liegen, wo wir sie von unsern Schultern gleiten ließen.
Mann, ist das dunkel hier ohne Taschenlampe. Gut, dass uns niemand sehen kann. Eine blonde, zierliche Kleopatra mit einer dunkelhaarigen, sehr weiblichen Amazone auf der Flucht vor einem Mann, dessen tiefe Stimme gerade wieder unheilvoll zu uns herüberschallt:
»Hallo, kommen Sie ruhig zurück. Sie sind nicht die Ersten, die nachts im Pool hier baden wollten.«
»Der spinnt doch. Der will uns nur nackt sehen. So ein Spanner!« Maja ist wirklich empört.
»Mensch, Maja, der kann doch gar nicht wissen, dass wir nix anhaben. Es sei denn, er hat bereits unsere Bademäntel gefunden … Außerdem wolltest du doch sowieso gerne mal nackt verhaftet werden? Übrigens, mir ist saukalt. Was machen wir denn jetzt?«
»In den Mänteln sind auf jeden Fall keine Namen eingestickt. Komm, ich habe auf so eine Nummer jetzt keine Lust, und wieder Hausverbot bekommen, wie damals bei Ikea, will ich auch nicht. Weißt du noch?«
Stimmt, die Nacht bei Ikea … Also habe ich doch schon mal was Verbotenes getan. Ich gucke Maja an und muss laut kichern.
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