Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Paula ist fast neun, das Paradies nimmt nur Kinder bis zu sieben Jahren auf. Sie haben dort ein kleines Kino, in dem alte Walt-Disney-Filme laufen, und eine Art Planschbecken, das, statt mit Wasser, mit bunten Plastikbällen gefüllt ist.
Hier hat man wirklich an alles gedacht. Groll bewundert diese Perfektion, da überwindet er sogar die Abneigung, die er ansonsten für Großkonzerne hegt. Vor der Möbelhalle gibt es einen Platz, wo die Kunden ihre Hunde anleinen können, dort stehen nicht nur Wassernäpfe wie anderswo, sondern es liegen auch Matratzen auf dem Boden oder etwas, das aussieht wie eine Matratze, damit die Hunde sich bequem hinlegen können und es warm haben. In der großen Empfangshalle steht ein Ersatzteilautomat, an dem die Kunden sich für eine Münze ein paar Schrauben oder Zapfen oder Stifte ziehen können. Sie müssen sich dazu nicht den weiten Weg durch das Möbelhaus antun. Zusammen mit den Ersatzschrauben gibt der Automat einen Bon für ein Freigetränk heraus, den man im Restaurant des Möbelhauses einlösen kann.
Der tiefere Sinn des Geschenks ist natürlich, dass die Kunden sich, obwohl sie schnell an ihre Schrauben herankommen, eine Weile in dem Möbelhaus aufhalten und sein Angebot zu Kenntnis nehmen, aber in guter Stimmung, ohne dass ihre Kauflust vorher durch den mühsamen Kampf um ein paar billige Schrauben gebremst wurde. Das war wirklich alles bis ins Letzte durchdacht.
Groll und N. haben eine Liste dabei: Billy-Regale für Paulas Zimmer, und zwar helle, keine schwarzen, wie bei allen anderen, ein Gästebett für Groll, das in der Wohnung von N. aufgestellt werden soll – sie haben beschlossen, bei getrennten Wohnungen zu bleiben, erst mal, und Groll kann nicht einschlafen, wenn noch jemand anderer im Bett liegt –, dazu diverser Kleinkram, Servietten sowieso, Kerzen, Teelichter, ein Schneidebrett für die Küche, man kocht jetzt öfter gemeinsam, ein Bilderrahmen für das Foto, das sie zu dritt auf dem Weihnachtsmarkt zeigt, und ein CD-Ständer oder ein CD-Regal, je nachdem. N. schenkt Groll gerne selbstgebrannte CDs, zuletzt eine CD von Madonna, die Groll für überschätzt hält, was er auch sagt. Oder hat er es sich verbissen? Er weiß es nicht mehr genau. »Stairway to Heaven« hält er jedenfalls für besser als alles, was er von Madonna kennt.
Er wird darauf bestehen, dass sie die Kosten genau auseinanderdividieren. Das braucht er für sein Selbstwertgefühl. Groll hat Philosophie und Germanistik studiert, summa cum laude , das muss man sich einmal vorstellen. Magister, nicht Lehramt. Lehramt wäre klüger gewesen. Jetzt arbeitet er in einem Callcenter. Ein bisschen was vom Erbe der Eltern ist auch noch übrig, das schon. Manchmal überweist Paulas Mutter ihm ein paar Euro, aber darauf ist kein Verlass. Paulas Mutter lebt als Porträtmalerin an der Algarve, der Portugiese, der zu diesem Lebensmodell ursprünglich dazugehörte, hat sich in der Zwischenzeit wohl verflüchtigt.
N. ist ein paar Jahre älter als Groll, und sie verdient mehr als er, beim Fernsehen, überhaupt, er passt nicht in ihr Beuteschema. Dieser Satz fiel gleich am ersten Abend: Du passt nicht in mein Beuteschema. N. ist schwer enttäuscht worden, N. macht eine schwierige Phase durch, beruflich und privat. Das war nun vor einigen Monaten die Chance von Groll, sie war in diesem Moment gerade günstig zu haben. Sonderangebot. Einem wie dir hätte ich vor zwanzig Jahren nicht mal meine Telefonnummer gegeben. Solche Sachen sagt sie zu ihm.
Groll arbeitet bei der BC Phone Company, was die Abkürzung »BC« bedeutet, weiß er nicht. Berlin Calling? Es interessiert ihn nur mäßig. BC sitzt im Dachgeschoss eines Verlagsgebäudes, ein großer Raum, gefüllt mit kleinen Schreibtischen. Er gehört zum sogenannten Outbound. Der Inbound nimmt Gespräche an, naturgemäß meistens Beschwerden, der Inbound braucht Nerven wie Drahtseile, da müssten sie eigentlich lauter Diplompsychologen einstellen. Der Outbound ruft selber an und versucht, neue Abonnenten zu gewinnen, klar, der Outbound ist beliebter. Inbound und Outbound sind wie Defensive und Offensive. Man ist lieber in der Offensive.
Das Großraumbüro, in dem sie sitzen, nennt Groll in seinen Gedanken die Gesindestube. Ohne die unauffällige, für die anderen unsichtbare Arbeit des Gesindes würde der Verlag innerhalb von drei Monaten zugrunde gehen. Sie tun zweifellos eine extrem nützliche und wichtige Arbeit und sind dabei die am geringsten angesehenen
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