Gefühltes Wissen
nachzuholen, da schnappt sich ein junger Mann die große Platte und rennt damit weg. Greife mir die Kleine und renne ihm hinterher. Wobei, rennen ist schon etwas übertrieben. Tatsächlich bewegen wir uns, wegen der schweren Platten, ziemlich langsam. Es entsteht eine recht skurrile Verfolgungsjagd. Nicht so rasend, hektisch und atemberaubend wie in «Blues Brothers» oder «French Connection», sondern mehr so wie aus einem Wim-Wenders-Film, also wenn Wim Wenders Verfolgungsjagden machen würde. Ganz ruhig, langsam schleppend und keuchend jagen wir hintereinander her. Ab und zu rufe ich der Form halber mal:
«Stehen bleiben!» oder «Haltet den Dieb!», aber niemand beachtet uns. Da ich die kleinere Platte habe, kann ich den Rückstand tatsächlich verkürzen. Na guck, was so ein alter D-Jugend-Fußballer ist, dem läuft so 'n junger Spund so schnell nicht weg. Immer kleiner wird der Abstand, dann sind es nur noch zwei, drei Meter, fast hab ich ihn, da fallt mir plötzlich auf, dass er ja in die für mich richtige Richtung läuft. Lasse mich wieder zurückfallen. Rufe ihm noch zu: «Musst gar nicht so schnell, ich kann auch schon fast nicht mehr!», und freue mich fortan über jeden Meter, den er mir die Platte trägt.
Rund 200 Meter vorm Südstern, vor einer Bäckerei, bricht er dann doch zusammen. Ich laufe zu ihm auf. «Okay, du hast mich, hier ist deine Scheißplatte!» Will ihn aufmuntern: «Ach was, ich bin auch fix und fertig, komm, du schaffst es, halte noch 200 Meter durch!»
Er wirft sich flach auf den Boden. Hole aus der Bäckerei zwei Pfannkuchen und heißen Kakao, um ihn etwas aufzupäppeln.
Er stopft das Zeug in sich rein, weigert sich aber beharrlich, mich anständig weiterzubestehlen. Dann geht er einfach weg.
Frechheit.
Trage wieder eine Platte voraus und warte, bis mich der Nächste bestiehlt. Nichts passiert. Vielleicht keine gute Ecke zum Beklautwerden. Ob ich mit den Platten in die Hasenheide sollte, den Park gleich nebenan? Schaffe sie dahin. Doch auch da: Nix!
Mist, Berlin ist auch nicht mehr, was es einmal war. Irgendwann gegen Einbruch der Dunkelheit döse ich auf einer Parkbank weg. Als mich die Vögel am nächsten Morgen wecken, stapeln sich neben meiner Platte ca. 10 Kubikmeter Sperrmüll. Na, da soll noch einer sagen, in Berlin kriegste nichts geschenkt.
5 Selbst gemachtes Wissen
Mehr vom Tag
Dienstagvormittag. Stehe nur in T-Shirt und Unterhose in der Wohnung meines Nachbarn und putze die Fenster. Warum tue ich das? Wie konnte es nur so weit kommen? Kurz zusammengefasst könnte man sagen: Gibt so Tage. Tatsächlich jedoch war die Geschichte etwas komplizierter. Dienstagmorgen, 6.13 Uhr. Das Telefon klingelt. Ich schrecke auf, greife zum Wasserglas neben dem Bett, nehme einen Schluck, reiße mir den Hörer ans Ohr und versuche, mich so freundlich, wie ich um diese Zeit nur kann, zu melden:
- Bäääahrr.
Nur ein Blubbern in der Leitung. Spüre, wie mir das kalte Wasser aus dem überlaufenden Ohr über Schulter, Brust, T-Shirt und Unterhose läuft. Mache das Licht an. Auf dem Nachttisch liegt der angesabberte Telefonhörer. Das mittlerweile leere Wasserglas, das ich mir immer noch ans rechte Ohr halte, macht mir gleich schlechte Laune. Führe das Telefon zum linken Ohr und versuche es nochmal:
- Bääahhrr?
- Einen wunderschönen guten Morgen! Mit wem spreche ich?
- Häh?
- Bitte?
- Warum wollen Sie das wissen?
- Na, weil alle unsere Hörer doch wissen möchten, wer gleich 500 Euro gewinnen kann, weil er mir den Sender nennt, der ihn jeden Morgen mit dem besten und witzigsten Frühstücksradio der Stadt so wunderbar weckt.
- Ach so. Na, na, ich heiße…, na, ich…
Verdammt. Vor 8 Uhr morgens kann ich mich nie an meinen Namen erinnern. Wie oft bin ich schon aus irgendeinem Grund gegen 7 aufgewacht und hab dann stundenlang überlegt, wer ich wohl sein könnte. Der Wohnungseigner? Ein Gast? Ein Einbrecher, der während des Einbruchs überraschend eingeschlafen ist? Oder womöglich nur ein Haustier? Hund, Katze, Hamster oder so was. Das wäre mir eigentlich das Liebste gewesen, denn dann würde ich ja wohl gleich gefüttert werden. Super!
War aber nie. Spätestens um 10 musste ich dann immer wegen Durst aufstehen. Deshalb hab ich jetzt auch ein Wasserglas neben dem Bett stehen. Dann kann ich länger denken, ich bin nur das Haustier, und der drohende Tag verliert seinen Schrecken.
Aber jetzt brauche ich Informationen zu meinem Namen. Renne mit dem schnurlosen Hörer aus
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