Gefühltes Wissen
Stunden vor, weit über ihre normale Weckzeit hinaus, um sie dann gleich aufgeregt zu wecken: Ob sie denn nicht zur Arbeit müsse, es sei schon nach 9.00 Uhr, sie komme doch viel zu spät ins Büro!
Ingrid Pallmann erschrak beim Blick auf den Wecker, sprang aus dem Bett, rannte sofort planlos und hektisch durch die Wohnung, griff wahllos nach jedem herumliegenden Kleidungsstück, versuchte diese im Laufen irgendwie über ihren Körper zu bugsieren und rief dabei mit sich überschlagender Stimme unablässig: «O Gott, o Gott, das kann doch nicht sein, o Gott, der Wecker hat nicht funktioniert, o Gott, oder ich habe ihn nicht gehört, o Gott! O Gott!»
Dann fiel sie beim Versuch, im Laufen eine Strumpfhose anzuziehen, in den Altpapierstapel.
Heinrich Pallmann lächelte. Er mochte es, wenn seine Frau so völlig aufgelöst und hektisch war. In diesen Momenten war sie für ihn noch schöner als sonst schon. So jung, so lebendig, so liebenswert!
«Hilf mir mal, du Arsch!!!», brüllte sie ihn an, als sie, in der Zimmerpflanze verheddert, mit dem BH kämpfte, und Heinrich verliebte sich direkt zum wahrscheinlich 183. Mal aufs Neue in seine Frau.
Auch nach weit über 20 Jahren war ihre Liebe immer noch frisch. Nicht zuletzt auch aufgrund der vielen kleinen Neckereien, mit denen sie sich ihren Alltag versüßten. Wenngleich diese zeitweise auch schon mal ein wenig aus dem Ruder liefen.
Was mal mit Zahnpasta in den Schuhen oder Salatsauce in der Shampooflasche angefangen hatte, war irgendwann ausgeartet zu Abführmitteln in den Rühreiern, Cayennepfeffer in der Frühstücksmarmelade oder kleinen, lebenden Tieren in den Büroaktentaschen. Während er es liebte, wenn sie von der Arbeit krankgemeldet zu Hause lag, mal eben im Büro anzurufen und nach ihr zu fragen, hatte sie großen Spaß daran, im Frühling, bei offenem Fenster, fröhlich, ansatzlos und sehr laut durch den Innenhof zu rufen: «Verdammt, Heinrich, räum gefälligst die Windeln und den Schnuller weg, wenn du mit deinen Rollenspielen fertig bist!»
Diese kleinen Späße entfremdeten sie immer mehr von ihrer Umwelt, schweißten sie aber auch umso inniger aneinander, je mehr ihre gesellschaftliche Isolation wuchs. Lebensmittelvergiftungen, Haushaltsunfälle, fristlose Kündigungen - die Menge der gemeinsamen, unvergesslichen, einmaligen Erlebnisse, sie wuchs von Jahr zu Jahr. Einen gewissen Höhepunkt erreichten sie vor einigen Jahren, als Heinrich Ingrids Unterlagen aus dem Architekturbüro, in dem sie damals arbeitete, vertauscht hatte. Genau ging es um zwei Ausschreibungen für ein Heizkraftwerk irgendwo in Ungarn und für ein Bürogebäude am Potsdamer Platz. Tatsächlich führte Heinrichs kleiner Streich dazu, dass heute auf dem Potsdamer Platz dieses sehr an ein Heizkraftwerk erinnernde Bürogebäude steht, während man sich irgendwo in Ungarn über ein architektonisch äußerst anspruchsvolles Heizkraftwerk freut.
«Wieso hast du mich nicht geweckt, du dumme Sau? Na ja, jetzt auch egal. Tschüs, Schatz!» Ingrid stürmte aus der Wohnung. Verliebt schaute Heinrich seiner fluchend und polternd durchs Treppenhaus scheppernden Frau hinterher. Schon bald würde sie seine kleine Verlade bemerken. Sicher würde die Rache nicht lange auf sich warten lassen. Heinrich freute sich schon darauf. Bestimmt würde sich Ingrid etwas ganz Wunderbares einfallen lassen. Immerhin hatte sie ja jetzt fast zwei Stunden unverhoffte Freizeit dafür.
Freiheitsberaubung
Meine Lieblingszeitungsmeldung aus dem letzten Jahr ging um einen Mann, der am Heiligabend mit der Bahn gestrandet ist und für mehrere Stunden auf einem kleinen Bahnhof in der Nähe von Braunschweig festhing. Nach ungefähr drei Stunden hat er entnervt bei der Polizei angerufen und wollte eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung aufgeben. So weit, so üblich. Wirklich schön allerdings war die Antwort der Polizei. Die hat ihm dann nämlich gesagt: «Anzeige wegen Freiheitsberaubung geht telefonisch nicht, da müssten Sie schon persönlich vorbeikommen.»
Das hätte ich der Braunschweiger Polizei so niemals zugetraut. Es gibt doch noch richtige Weihnachtsgeschichten.
Arbeitsplatten machen Arbeit
Als ich in den U-Bahnhof Möckernbrücke komme, sehe ich einen jungen Mann vor einem dieser neuen BVG-Automaten stehen. Er starrt reichlich ratlos auf den kundenfreundlichen Bildschirm. Spreche ihn an:
- Wo musstn hin?
- Ich versteh das nicht.
- Ich weiß, aber wo musstn hin?
- Grad hat mich dieser Bildschirm
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