Gefürchtet
wirkte erhitzt.
»Sie hat gesagt, ich würde sie im Stich lassen. Sie den Wölfen vorwerfen.«
Die Flut lief ab, und die Brecher schäumten weiß auf dem blaugrauen Wasser. Unablässig drehte und wendete Ricky die Muschelschale.
»Sin denkt, ich hätte alles verdorben. Angeblich habe ich sie unterdrückt, sie zu ei nem kleinkarierten Leben gezwungen. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich bin der Klotz an ihrem Bein. Ich, Slink Jimson.«
Seine Pupillen waren unnatürlich geweitet. War der Schock zu viel für ihn gewesen?
»Sie hat behauptet, sie hätte deine Identität stehlen müssen, weil ihr die Luft zum Atmen fehlte. Alles meine Schuld, findet sie. Angeblich hab ich ihr kei ne Wahl gelassen.« Er hob die Hand. »Ich weiß. Du brauchst nichts zu sagen. Für sie war das Ganze ein Spaß.«
Er sackte noch weiter in sich zusammen. »Ich habe versucht, sie zu überreden, zur Polizei zu gehen und den Identitätsbetrug aufzuklären, um dir aus der Bredouille zu hel fen.« Er warf mir ei nen bedauernden Blick zu. »Und wegen diesem Gaines-Mädchen. Um ihren Namen reinzuwaschen, ihr Andenken. Damit ihr Vater seinen Frieden findet.«
Er schleuderte die Muschel in Richtung Wasser. »Aber das ist ihr alles egal.«
»Wird sie mit einem Anwalt reden?«, fragte Jesse.
»Sie redet mit gar niemandem, Punkt.« Er kniff die Augen zusammen und blickte auf die Brandung hinaus. »Sie hat nur noch durch mich hindurchgesehen. Ich war Luft für sie.«
Jesse spreizte die Hände. Offenbar fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.
Ricky richtete sich auf. Sein Gesicht wurde nachdenklich.
»Ich hatte immer das Gefühl, dass mir der Tod auf den Fersen ist, das wisst ihr bestimmt. Aber ich dachte, das Ende würde schnell kommen. Aus heiterem Himmel.«
Wie ein Blitzschlag.
»Aber das mit Sin … Das ist ein langes qualvolles Sterben.« Er schaute Jesse an. »Ist es so?«
»Was?«, fragte Jesse.
»Dem Tod nahe zu sein.«
Der Wind zauberte weiße Wellenkämme auf das Wasser. Jesses Hände ruhten locker auf seinen Knien. Er mochte kein absolutes Pokerface haben, aber er war nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Ricky lehnte sich auf dem Surfbrett nach vorn.
»So viele Menschen, die ich kannte, sind tot und können mir nichts mehr erzählen.« Er wurde ruhiger. »Du hast überlebt. Du weißt, wie es ist.«
Jesse blieb gelassen. »Leere, eine große, allgegenwärtige Leere, die nach dir ruft. So war es für mich.«
Ricky atmete tief durch. Sei ner Miene entnahm ich, dass er seit Jahren nach einer solchen Bestätigung suchte.
»Ich gebe nicht auf«, sagte Ricky. »Ich rede noch mal mit ihr.«
»Tu das.« Jesse blickte auf die Brandung hinaus. »Aber deine Möglichkeiten sind begrenzt. Sie ist erwachsen.«
»Sie ist meine Tochter. Ich kann sie nicht einfach aufgeben. Ich mache mir furchtbare Sorgen um sie.« Er presste sich eine Hand auf die Brust. »Schon beim Gedanken daran bekomme ich Herzrasen.«
»Wenn sie sich stellt, wird es jedenfalls sehr viel glimpflicher für sie ablaufen«, warf Jesse ein.
»Vor der Polizei habe ich kei ne Angst. Es geht mir um ihn.«
Jesse wurde nervös. »PJ?«
»Shaun«, sagte Ricky überrascht. »Sie ist ihm hörig.«
Jesses skeptisch verzogener Mund schien anzudeuten, dass er genauso dachte wie ich: Ricky verkannte die Lage völlig. Sinsa hatte Shaun in ihrer Gewalt, nicht umgekehrt.
Ricky stand auf und bürstete sich den Sand von der Jeans, die ihm um den Hintern schlotterte. Dann rieb er sich die Brust und blin zelte, als hätte er Augenschmerzen. Die Anspannung forderte ihren Tribut.
Ich erhob mich ebenfalls. »Ich kann nicht mehr warten. Ich fahr zur Polizei.«
»Ist mir klar«, Ricky zuckte resigniert die Achseln. »Mal schauen, was ich tun kann. Und entschuldige, dass ich in die Garage eingebrochen bin.«
»Macht nichts«, erwiderte Jesse.
»Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Als ich das Surfbrett in der Garage gesehen habe, musste ich plötzlich daran denken, wie friedlich ich mich nach dem Wellenreiten immer gefühlt habe.«
Jesse legte den Kopf zur Seite. »Weißt du was? Nimm es mit.«
Ricky blickte ihn überrascht an.
»Wenn du beim Surfen dein seelisches Gleichgewicht findest, ist das doch ideal. Es gehört dir.«
Rickys gerötete Augen wurden weich. »Danke, Mann.«
»Ich bin in einer Stunde auf der Polizeistation«, sagte ich. »Du kannst mich mit Sinsa da treffen.«
»Hoffentlich kommt sie mit.« Er griff nach dem Brett, klemmte es sich unter
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