Gefürchtet
den Arm und trottete um das Haus herum.
Jesse griff kopfschüttelnd nach dem Rollstuhl. »Der Mann ist völlig am Ende.«
»Was du nicht sagst.«
»Sinsa ist die Verkörperung seiner düstersten Texte. Jimsonweeds Horrorhits werden Wirklichkeit.« Er hievte sich in den Rollstuhl.
»Was war eigentlich los?«, fragte ich.
»Er hat uns gesucht. Hast du ihm gesagt, du wärst hier?«
»Nur dass ich mit dir reden würde.«
»Dann war er dir ein paar Schritte voraus.« Als er sich dem Haus zuwandte, spiegelte sich das Sonnenlicht in sei nen Augen. »Wieso bist du eigentlich so energisch um die Ecke gestürmt? Was hast du erwartet?«
»Ich weiß nicht.« Das war gelogen. »Ärger.«
Er warf mir einen seiner berühmten sarkastischen Blicke zu. »Supergirl im Einsatz. Weg mit der Schlinge, hoch mit den Fäusten, auf in den Kampf.« Er rollte zur Terrassentür. »Schön, dass du wieder auf dem Posten bist.«
Rot vor Verlegenheit folgte ich ihm ins Haus. Auf dem Küchentisch lag seine neue Glock.
»Du hast sie also«, stellte ich fest.
»Gut beobachtet.«
Natürlich war Jesse in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Er kam allein zurecht. Ich schluckte mein Unbehagen herunter.
»Du weißt von der Sache mit PJ?«, fragte ich.
»Leider.« Er suchte seine Schlüssel. »Ich traue Sinsa nicht. Wir haben keine Ahnung, was sie im Schilde führt. Am besten fährst du so schnell wie möglich zur Polizei.«
»In Ordnung.« Ich ließ ihn nicht aus den Augen. »Du begleitest mich doch?«
»Ich muss auf die Beamten warten. Wenn ich hier fertig bin, komme ich nach.«
Ich war schon an der Haustür, als er mir nachrief. »Ich hab’s nicht so gemeint. Das mit Supergirl.«
Ich drehte mich um. Die Sonne glänzte auf seinem Haar, und sein Gesicht wirkte müde.
»Das weiß ich doch«, sagte ich.
»Ich bin froh, dass du wieder die Alte bist.«
Ich ging zu ihm und küsste ihn. »Ruf mich an.«
Draußen wiegten sich die Monterey-Kiefern im Wind. Als ich zurücksetzte, um zu wenden, fiel mein Blick im Rückspiegel auf Jesses Auto. Ich stutzte. »Zu verkaufen« stand auf einem Zettel an der Heckscheibe des Mustangs.
Ich war fassungslos. Waren meine Worte doch nicht auf taube Ohren gestoßen?
Erleichtert fuhr ich los. Diesmal verlangsamte ich am Bahnübergang das Tempo und hielt nach herannahenden Zügen Ausschau. Der Himmel über den Bergen schimmerte azurblau.
Ich lockerte meine verletzte Schulter. Selbst ohne Schlinge war der Schmerz zu einem Gefühl nagenden Unbehagens abgeklungen. Ich befand mich eindeutig auf dem Weg der Besserung.
Auf dem Freeway gab ich Gas und schaltete das Radio ein. Mary Chapin Carpenter sang Jubilee. Mit zärtlicher, melancholischer Stimme wünschte sie ihrem Liebsten Erlösung von seinem Schmerz, der wie ein Wrack im Staub hinter ihm zurückbleiben sollte. D ie Pianoklänge w aren zurückhaltend, aber die Gitarre ließ mich an weit geöffnete Arme denken.
Herzzerreißende keltische Flötenmusik wob sich durch das Lied.
Wie lässt man los, wenn einem Unrecht geschehen ist?
Hoch über mir zogen Zirruswolken über den Himmel. Vor mir erhob sich ein Schwarm Spatzen in lichte Höhen.
Und dann zerriss die schwarze Schwinge das blaue Gewölbe.
Der Explorer schlitterte nach rechts und schoss über die Fahrbahn hinaus aufs Bankett. Die Reifen holperten über den Schotter. Ich riss das Lenkrad herum und steuerte den Wagen zurück auf den Asphalt. Meine Kehle war wie ausgedörrt, mein Kopf dröhnte.
Jesse ließ gar nicht das Unrecht los, das ihm angetan worden war. Er ließ einfach nur los.
Er wollte dem Schmerz ein für alle Mal ein Ende setzen. Deswegen hatte er Luke sei nen Audioplayer mit der Musik, die er über Monate hinweg einprogrammiert hatte, geschenkt. Deswegen überließ er Ricky sein Surfbrett und verkaufte sein Auto.
Er plante seinen eigenen Tod.
Wie er sich gefreut hatte, dass ich wieder zu Kräften gekommen war und mich um mich selbst kümmern konnte. Ich trat das Gaspedal durch und suchte verzweifelt nach einer Abfahrt vom Freeway. Wenn ich sei ne Hilfe nicht mehr brauchte, konnte er endlich loslassen. Leere, eine große, allgegenwärtige Leere, die nach dir ruft.
Tränen brannten in meinen Augen. Ich scherte auf die Überholspur aus, auf der ein Wagen dahintrödelte. Als ich aufblendete, wich er nach rechts aus. Ich schoss vorbei. Die Ausfahrt, wo war diese verflixte Ausfahrt? Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich die Musik nicht mehr hörte.
Das schwarze Gespenst
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